„Wer nur in die Fuß-Abdrücke anderer tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren.“

Diesen Satz habe ich letzte Woche in der Fernsehsendung „The Voice of Germany“ von einem jungen, jüdischen Kandidaten gehört.

„Wer nur in die Fuß-Abdrücke anderer tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren.“

Was für ein Satz! Was für ein Gedanke! Bis heute denke ich über die Aussage des jungen Mannes nach. Vor allem deshalb, weil der Satz irgendwie auch meine Rolle, unsere Rolle, die wir einnehmen wollen, berührt.
Und was könnte dieser Satz für uns bedeuten, die wir Vorbilder sein sollen und für uns, die wir selbst vielen Vorbildern folgen.

Unser Wochenabschnitt Wajeschev läutet den letzten Abschnitt des ersten Buches der Tora ein. Nach dem Tode Itzchaks würde man erwarten, dass nun ganz der Fokus auf Jakob fällt, der schon die Handlungen der letzten Abschnitte dominierte, aber dem ist nicht so. Jakobs weiteres Leben rückt bis auf wenige Passagen in den Hintergrund. In das Zentrum der weiteren Erzählung rücken Jakobs Söhne, und in besonderer Weise Josef.

Zugegeben, mein heimlicher Held der Tora ist Joseph und ich freue mich immer um diese Jahreszeit von meinem biblischen Vorbild zu lesen. Ich wünsche mir z.B. oft, so ein klares Bild und so ein festes Vertrauen in Gott zu haben wie er. Ich erfreue mich an seiner Lebensfreude und ich bewundere ihn für seinen klaren Kopf. Was würde ich dafür geben, in machen Stresssituationen nicht die Fassung zu verlieren, sondern klar die Situation zu erfassen und gelassen zu reagieren. Vielleicht idealisiere ich Joseph ein wenig. Vorbilder werden leicht idealisiert und ich bin mir eigentlich sicher, dass Joseph nicht in jeder Situation perfekt war und so gelassen, wie ich es aus den restlichen Kapiteln des Buches Bereschit herauslese.
Viel mehr noch, wenn wir genau hinschauen, werden wir Makel an Joseph finden, wie wir sie an jedem Vorbild entdecken und dabei sogar bitter enttäuscht werden.

Immer wieder wurde ich von Vorbildern enttäuscht. Von Rabbinern, Lehrern, Freunden, zu denen ich aufgeschaut habe und die zu einem bestimmten Punkt ihren Glanz verloren haben. Die Tora selbst schult uns darin, unsere Helden auch „nackt“, als fehlerhafte Menschen, zu sehen. Avraham bis Moses, alle sind Vorbilder denen wir folgen sollen und Vorbilder im umgekehrten Sinne. Vorbilder, denen man nicht folgen soll.
Auch Josef enttäuscht. Ausgestattet mit der ganzen Liebe seines Vaters und herausgehoben unter seinen Brüdern handelt er nicht vorbildlich, wie man es von einem Helden erwarten würde. Im Gegenteil, er handelt arrogant und egoistisch. Die Würde, die er von seinem Vater in Form des bunten Gewandes verliehen bekommt, wird zur Bürde für seine Brüder.

Viele Kommentatoren meinen, dass der tiefe Fall, den Josef in seinen jungen Lebensjahren erleben musste, die Jahre der Sklaverei, notwenige Lehrjahre waren. Nur durch die „harte Schule“ konnte aus Joseph ein solch brillanter Denker und Anführer werden.

Ich mag den Gedanken nicht. Ich mag ihn deshalb nicht, weil Strafe und Erniedrigung nie gute Lehrmeister sind. Nein, in niemanden wird schlummerndes Potential entdeckt, wenn wir ihn quälen oder, um es mal nicht so hart auszudrücken, wenn wir ihm Steine in den Weg legen.

In meinem Zitat vom Beginn gibt es ein kleines, aber sehr wichtiges Wort. NUR.

“Wer nur in die Fuß-Abdrücke anderer tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren.”

Der junge Mann hat nicht ausgeschlossen, Vorbildern zu folgen, er will es NUR nicht ausschließlich tun.

In Joseph schlummerte mit Sicherheit schon in jungen Jahren ein besonderes Potential, aber ihm nur den Mantel zu geben und zu schauen, was passieren wird, konnte in meinen Augen nur schief gehen. Jakob mag für uns heute ein Vorbild sein, aber ich bin mit seinen Erziehungsmethoden nicht einverstanden.

Jemanden eine Aufgabe zu übertragen und/oder in ihm sein Potential zu wecken, heißt, sie oder ihn in dieser Aufgabe zu begleiten, ihr oder ihm zu helfen, den eigenen Weg zu finden. Und zwar raus aus unseren Fußabdrücken. Einfach abwarten und schauen, was passiert, ist in meinen Augen der falsche Weg.

Aber aufgepasst! Wer will, dass seine Schüler so werden wie er ist, ist in meinen Augen in erster Linie ein Egoist. Kinder, junge Erwachsene, Schüler und Studenten sollen eigene Menschen werden und keine Kopien.

Ich glaube, dass ist es auch, was mich an vielen meiner Vorbilder immer wieder enttäuscht hat. Nicht, dass sie fehlerhaft waren. Sie waren und sind Menschen. Enttäuscht hat mich, wenn sie von mir erwartet haben, ihnen zu folgen, ohne mir den Freiraum zur eigenen Entfaltung zu geben, ohne den Raum zu schaffen, in dem ich ich bleiben konnte.

Von mir – und von uns – erwarte ich, dass wir die Aufgabe als Vorbilder ernst nehmen, denn wir alle sind immer auch Vorbilder. Und ich wünsche mir, dass wir jedem Menschen unser Bestes geben, damit er oder sie den eigenen Weg gehen kann. Wenn diese Menschen dabei eine Weile unseren Fußspuren folgen, ist das Wunderbar. Wir sollten sie aber nach einer Zeit auch ermutigen, ihre eigenen Wege zu finden. Damit auch sie ihre eigenen Spuren hinterlassen können.

Boker Tov

[Dieses Davr Torah habe ich im Rahmen eines Studentenschacharits am Abrahm Geiger Kolleg gehalten, Wochenabschnitt Wajeschev 5772]