„Ist Polen nun ein großer jüdischer Friedhof – oder nicht?“

(c) Adrian Michael SchellSo kann man meine Ausgangsfrage zusammenfassen, die für mich das Hauptmotiv bildete, mich bei der Studienreise der Universität Potsdam anzumelden.

Die Studienfahrt stand unter der Überschrift „Interruption and Renewal of Religious Traditions“ und fand zum dritten Mal – diesmal in Lublin – statt. Die teilnehmenden Studenten kamen aus den USA, Deutschland, Israel und Polen.

Von großem Interesse durch die polnischen Gastgeber geprägt, war die Darstellung der Wiederbelebung(-sversuche) jüdischen Lebens in Lublin. Für mich persönlich eindrucksvoll sind die hervorragenden Aktivitäten des Grodzka-Gate-Ensembles, welches in seinem kleinen Museum anhand von Bildern und Zeitzeugenberichten das jüdische Lublin dokumentiert und auch durch die Markierung von Orten und Plätzen im öffentlichen Raum jüdische Spuren in der Stadt sichtbar macht. Kritisch betrachtet fiel dabei aber auf, dass diese Bemühungen fast ohne jüdische Beteiligte durchgeführt werden, und somit eine dringend gebotene Kontrollinstanz fehlt, und den Machern des Ensembles ab und an die notwendige Distanz abhanden gekommen zu sein scheint.

Vielleicht wäre es ehrlicher, wenn man zum Beispiel in den häufig stattfindenden Klezmer-Konzerten nicht ein Hervorholen rein jüdischer Traditionen sehen würde, sondern die Wiederbelebung eines gemeinsamen polnischen Erbes. So oder so, die Gefahr, dass vermeintlich Jüdisches unkritisch übernommen wird, und am Ende sogar junge polnische jüdische Gemeinden der Möglichkeit beraubt sind, Eigenes aufzubauen, ist gegeben und bedarf einer kritischen Betrachtung der Aktivitäten (z.B. Pessach-Feiern).

Zusammenfassend möchte festhalten, dass der Dialog bei weitem den Schwerpunkt der Woche bildete. Meine Frage, ob Polen nun ein jüdischer Friedhof im Gesamten ist, kann und muss ich verneinen. Alleine der Umstand, dass es Jüdinnen und Juden in Polen heute gibt, die sich aktiv um einen Neuaufbau jüdischer Gemeinden bemühen, lässt keine andere Antwort zu.

Aber statt der meist übertrieben Wiederbelebungsversuche, die ich persönlich auch im Angesicht der Millionen Toten für unwürdig halte, würde ich mir wünschen, dass man die zerstörte Vergangenheit betrauert und ihr einen würdevollen Platz in der Geschichte einräumen, auch wenn das wehtut. Ich glaube, dass durch diesen Umgang die notwendige Kraft für den Aufbau des neuen jüdischen Lebens zusammenkommen wird.

Nach meiner Reise kann ich für mich sagen, dass ich einen neuen Zugang zu Polen gefunden habe.

LINKTIPP: Grodzka Gate Museum und Theater NN: www.tnn.lublin.pl

DER VOLLSTÄNDIGE ARTIKEL ERSCHEINT IN DER JÜDISCHEN ZEITUNG

2 Comments

  1. Adi

    mein artikel ist nun in der jüdischen zeitung (dezember ausgabe) erschienen

  2. Adi

    Stefan Zinsmeister, ein christlicher Teilnehmer unserer Studiengruppe, hat nun in dem aktuellen Heft der Zeitschrift “Bibel und Liturgie in kulturellen Räumen” (81. Jahrgang, Heft 1), seine Eindrücke und Beobachtungen zur Reise veröffentlicht.

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