Jerusalem im jüdischen Gebet – eine kleine Annäherung

(c) by Adrian Michael Schellich habe einen vortrag über jerusalem im jüdischen gebtet gehalten. hier ist ein ausschnitt des vortrages, der eine kleine annäherung auf das thema durch meine persönliche brille wiedergibt:

1. Einleitung

Es sind erst zwei Wochen vergangen, dass fast alle Juden auf der Welt den ersten Pessach Seder mit einem recht bekannten Ausspruch, bzw. Lied abgeschlossen haben:
la shanah haba’a b jeruschalaim – zum nächsten Jahr in Jerusalem.
Pessach ist das jüdische Fest, an dem wir Juden uns an den Auszug aus Ägypten erinnern, an die einzigartige Tat G’ttes, der uns, sein Volk, aus der Unterdrückung befreit und in die Freiheit geführt hat.
Wie kommt es, dass in dem Seder, dem großen Gemeinschaftsabend, an dem wir miteinander sitzen, lesen, lernen, diskutieren und essen, und nur noch an einer einzigen, weiteren Stelle Jerusalem erwähnen, wir Jerusalem den visionären Abschluss einräumen.
Es ist richtig, Pessach war eines der Pilgerfeste zur Zeit des Tempels, aber dies spielt in den Erzählungen des Abends eigentlich keine Rolle. Es muss also etwas anderes sein, was Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende mit dieser Stadt verbunden hat und Propheten, Dichter, Rabbiner und Gelehrte angeregt hat, die Stadt in den Fokus unserer Liturgie, unserer Gebete, Hoffnungen und Träume zu rücken.


… [2. Geschichtlicher Abriss] …
3. Jüdischer Glaube
Jerusalem ist, eng mit dem Glauben einer jeder Jüdin, eines jeden Juden verknüpft. Nun habe ich in der Vergangenheit das eine um das andere Mal erlebt, dass Juden, Muslime und Christen Glauben unterschiedlich definieren, so dass ich versuchen möchte, eine erste Definition jüdischen Glaubens zu geben:
Den jüdischen Glauben aus einer oder einigen wenigen Stellen der hebräischen Bibel abzuleiten [und/oder aus einer der ihr nachfolgenden Schriften] ist im Grunde genommen ein unmögliches Unterfangen und birgt die Gefahr grober Vereinfachung. Das komplette religiöse Leben eines gläubigen Juden lässt sich aus den Geboten und Verboten der Torah und den Auslegungen der ihr nachfolgenden Schriften ableiten. Wie man sich kleidet und was man isst, gehört ebenso zur Religion wie das Gebet oder der G‘ttesdienst. Das ganze Leben ist Religion. Das Hebräische hat übrigens selbst kein eigenes Wort für Religion, sondern bedient sich heute einem Lehnwort aus dem Persischen „dat“, was soviel wie „Gesetz“ oder „Anordnung“ bedeutet. „Die Geschichtserfahrung von der Schöpfung über die Zeit der Erzväter und die Offenbarung am Sinai bis hin zur Shoah und den Ereignissen der Gegenwart ist Teil der religiösen Wirklichkeit. Für das deutsche Wort „Glaube“ verwendet das Hebräische das Wort „Emuna“, welches viele abgeleitet in dem Wort Amen kennen. Emuna bedeutet Treue, Standfestigkeit, Vertrauen. Wenn ein Jude also sagt, er glaubt, so vertraut er oder sie in erster Linie auf die Treue und die Standfestigkeit G’ttes zu seinem Bund. Es ist ein Wechselspiel gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Treue.

„Jüdische Religion kann nicht als System von Glaubenswahrheiten dargestellt werden, so sehr auch Glaubensinhalte das Judentum mitprägen. Das es G’tt gibt, ist für die Bibel und die ganze jüdische Tradition selbstverständlich; G’ttesbeweise haben aber nur die Religionsphilosophie interessiert. Das Verhältnis dieses G’ttes zu Welt und Menschen ist hingegen etwas, was in das tägliche Leben eingreift und in den Gebeten seinen ständigen Ausdruck findet. Es ist zwar etwas zu kurz gegriffen, wenn man das Judentum als Religion des Tuns betrachtet, doch ist darin etwas ganz Wesentliches gesehen. Glaubens- und Sittenlehre, religiöses Leben und die ihm zugrundeliegenden theologischen Auffassungen lassen sich nicht trennen“***2.

4. Psalm 137

Das eben erwähnte Wechselspiel findet in meinen Augen mit seinen Ausdruck unter anderem in dem Psalm 137, der auch direkt in das Thema zurück führt:

1 An den Strömen Babels, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
2 An die Pappeln dort hängten wir unsere Zithern.
3 Denn die uns gefangen hielten, forderten dort von uns die Worte eines Liedes, und die uns wehklagen machten, forderten Freude: “Singt uns eins der Zionslieder!”
4 Wie sollten wir des Ewiger Lied singen auf fremder Erde?
5 Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte!
6 Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe!

7 Gedenke, Ewiger, den Söhnen Edom den Tag Jerusalems, die da sprachen: Legt bloß, legt bloß – bis auf ihren Grund!
8 Tochter Babel, du Verwüsterin! Glücklich, der dir vergilt dein Tun, das du uns angetan hast.
9 Glücklich, der deine Kinder ergreift und sie am Felsen zerschmettert! ***3

Jerusalem ist in der jüdischen Glaubensvorstellung immer etwas sehr Konkretes. Vorstellungen von einem „Himmlischen Jerusalem“, wie es das Christentum kennst, sind uns eher fremd. Ein gutes Beispiel dafür ist eine „Anweisung” aus dem Talmud (bBrachot 30a):

„Die Rabbanan lehrten: Ein Blinder, oder jemand, der die Richtungen nicht genau bestimmen vermag, richte sein Herz auf seinen Vater im Himmel … [Ansonsten gilt] Steht er außerhalb des Landes, so richte er sein Herz auf das Israelland … Steht er im Israelland, so richte er sein Herz auf Jerusalem … in Jerusalem auf das Heiligtum … im Heiligtum auf das Allerheiligste … Es ergibt sich also, wer östlich steht, sein Gesicht nach Westen wende ….“***5

Der Psalm-Autor besingt hier ganz konkret die Stadt Jerusalem, aus der (zumindest ein Teil) der Bevölkerung im Jahre 586/587 vdZ., nach der Zerstörung des ersten jüdischen Tempels, vertrieben und in das babylonische Exil verschleppt wurde. Seit der Zeit Davids, also zu diesem Zeitpunkt etwa 400 Jahre vorher, war Jerusalem mit dem Tempel „Wohnstätte“ des Ewigen (Dtn. 12.11 und 1 Könige 8.13). Der Ort, an dem die innigste Kommunikation mit G’tt stattgefunden hatte. Unter dem König Joshia (648-608 vdZ.) wird der komplette Kult der Israeliten in Jerusalem zentralisiert und wahrscheinlich wird damit der Grundpfeiler der bis heute gültigen zentralen Position Jerusalems im jüdischen Glauben fest verankert.
Auch wenn mit der Exils-Zeit die Vorstellung, dass G’tt an jedem Ort der Welt anzutreffen ist und G’tt mit seinem Volk ins Exil gegangen ist , sich durchsetzt, bleibt Jerusalem die Stadt G’ttes (Jes. 60.14):

Und gebeugt werden zu dir kommen die Söhne deiner Unterdrücker, und alle, die dich geschmäht haben, werden sich niederwerfen zu deinen Fußsohlen. Und sie werden dich nennen: Stadt des Ewigen, Zion des Heiligen Israels.

Jeder, der schon einmal in Jerusalem war, hat vielleicht schon etwas von dieser innigen Beziehung gespürt, die Juden zu dieser Stadt haben, die zum Sinnbild für die Gegenwart G’ttes auf Erden in der jüdischen Tradition wurde. Und wenn der Autor des Psalms schreibt:

„5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte!
6 Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn
ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe!“,

dann beschreibt er die Angst vor einem Bruch zwischen Israel und G’tt, die Unterbrechung der wechselseitigen Treue. Dieser Vers erinnert uns Juden daran, diesen Bund zu halten.

Es kommt daher nicht von ungefähr, dass uns dieses Psalmzitat in den unterschiedlichsten Stellen jüdischer Liturgie wieder begegnet. Am auffälligsten ist eine Stelle, die gleichzeitig mit großer Emotionalität gefüllt ist. Wenn ein Paar unter der Chuppa steht, also nach jüdischem Brauch heiratet, wird am Ende der Zeremonie ein Glas vom Bräutigam, bzw. den Brautleuten zertreten, gefolgt von dem Zitat aus Psalm 137. In dem freudigsten Moment, der Besiegelung eines neuen Bundes zwischen zwei Menschen, erinnert sich die Gemeinde mit den Brautleuten an Jerusalem, an den Bund mit G’tt. Die Scherben des Glases repräsentieren dabei nicht nur die Zerstörung des Tempels und die Trauer darum, sondern verdeutlichen auch ein anderes, ein hoffnungsvolles Bild. So wie ein Glas, das einmal zerbrochen ist, unumkehrbar einen anderen Zustand erhalten hat, d.h. nicht wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt werden kann, so ist auch der Bund G’ttes mit Israel unumkehrbar.

5. Hoffnung aus Erlösung am Beispiel der Amida

An einem zweiten Beispiel möchte ich Ihnen zeigen, wofür Jerusalem in meinen Augen – neben der unerschütterlichen Treue G’ttes zu seinem Bund – steht: Die Hoffnung auf Erlösung.
Ich folge dabei im Wesentlichen den Ausführungen von Reuven Hammer, der mit seinem Buch „Entering Jewish Prayer“ ein hervorragendes Buch verfasst hat, jüdische Gebete sowohl in ihren historischen wie auch spirituellen Kontext zu erfassen ***7.

Die Amida beginnt mit folgender Aussage:

höchster Gott, der gute Wohltaten erweist, dem alles gehört und der sich erinnert an die Güte der Vorfahren. Um seines Namens willen, führt er Erlösung für die Kindeskinder in Liebe herbei.“
Was ist mit Erlösung gemeint? Und wer ist der Erlöser?

Als der zweite Tempel in Ruinen lag, als Jerusalem das zweite Mal zerstört war und es Juden verboten war, dort zu leben und Tausende in das Exil verbannt wurden und Juden unterjocht wurden, – wurde die glühendste Hoffnung der Juden, die Aufhebung dieser Katastrophe.

Und bereits vor der Zerstörung des Tempels, sehnten sich Juden nach der Befreiung aus der Fremdherrschaft. Einige träumten gar von einem übernatürlichen Ereignis, das diese Welt zu einem Ende bringen würde und der Auferstehung der Toten und dem Gericht über alle Menschen, eine Hoffnung auf eine kommende Welt. Die Gebete, die die Weisen zusammentrugen machen hingegen keine Andeutungen auf ein solches apokalyptisches Ereigniss und sie meiden jeden direkten Hinweis auf einen Messias. Die Hoffnung richtet sich ganz auf G’tt selbst, der die Katastrophe umkehrt und die ideale Situation wieder herstellt, so, wie sie in der Vorstellung der Weisen während der Tage des ersten Tempels herrschten. Als ein wahrer König in Israel regierte und G’ttes Präsenz in Zion wohnte. Eine Erlösung impliziert die Rückführung der Kinder Israels in ihr Land, regiert von einem König aus der Linie Davids und der Manifestierung der Präsenz G’ttes auf Erden in Form der Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem. Mit den Worten des Talmuds gesprochen:

„Zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen gebe es keinen Unterschied als die Knechtschaft der Regierungen.“ ***8

Wenn in der jüdischen Liturgie von einem Messias gesprochen wird, ist wichtig festzuhalten, dass dies sich in der Regel auf die ursprüngliche Wortbedeutung bezieht, also einen gesalbten König, der, so wie es in der Amida auch direkt angedeutet wird, aus dem Hause Davids stammen muss, da die Herrschaft Davids als die glücklichste in Israel angesehen wird. Die Erlösung und Wiedereinsetzung eines weisen und großen Königs erfolgt ausschließlich durch G’tt selbst.
Die 14. Bracha in der Amida lautet in der liberalen Übersetzung des jüdischen Gebetbuches „Seder Ha-Tefilot:

„Habe Acht auf Jerusalem, deine Stadt. Lass deine Gegenwart in ihr wohnen und lass es bald und noch in unseren Tagen eine Stadt sein, in der deine Gerechtigkeit wohnt. Möge sie ein Zentrum des Gebetes sein für alle Völker. Gepriesen seist du Ewiger, du baust Jerusalem.“***9 .

Die 15. Bracha führt die vorherige mit der Bitte um die Einsetzung einer gerechten Herrschaft (aus dem Hause David) und dem Beginn der messianischen Zeit unmittelbar fort. Die Rückkehr G‘ttes zu seiner Wohnstätte in Zion, deren Zeugenschaft der Beter in der 17. Bracha erbittet schließt diesen Komplex ab und drückt gleichzeitig den erflehten Höhepunkt des Erlösungsprozesses aus. Die Rückkehr G’ttes nach Zion ist das Signal dafür, dass der Prozess der Erlösung abgeschossen ist. G’tt ist aus dem Exil mit seinem Volk zurückgehrt. Wieder ist es das irdische Jerusalem, welches konkret im Fokus des jüdischen Gebetes steht.

Die Ausführungen lassen sich übrigens auch auf die Passagen im jüdischen Tischgebet nach einem Essen oder auf die vielen anderen Stellen, in denen wir Jerusalem in unserem Gebeten hoffnungsvoll nennen übertragen.

Jerusalem ist das Sinnbild unserer Hoffnung, die Hoffnung auf eine Zeit der Gerechtigkeit, eine Zeit, in der Juden auf der ganzen Welt ihren Glauben in Frieden leben können. Es ist diese Hoffnung, die Juden eint, wenn sie sich im Gebet in Richtung Jerusalem wenden.
Und wir können hier auch wieder unseren Kreis zu Pessach schließen. Wenn wir die Erzählung über den ersten Auszug mit dem Wunsch verbinden, dass wir uns im nächsten Jahr alle in Jerusalem wiedertreffen mögen, dann weil wir auf einen zweiten Auszug aus der Knechtschaft hoffen.

La shanah haba’a b’Jerushalaim …

(Bitte bei Übernahme von Texten dieser Website eine Referenz auf diese Site mit angeben. Danke!)

Fussnoten:

2 Günter Stemberger: Jüdische Religion, Beck Verlag, München, 3. Auflage 1999, ISBN 3-406-45003-2
3 http://www.bibleserver.com/index.php , Elberfelder revidierte Übersetzung, unter Berücksichtigung der Kommentare
5 Talmud, Goldschmidt, Jüdischer Verlag, Band 1, S. 131
6 Mechilta, ed. Lauterbach, Band 2, S. 113f “…Wo immer Israel in Exil hingeht, G’tts Präsenz geht mit ihm …“
7 Reuven Hammer: Entering Jewish Prayer – A guiede to personal devotion and the worship service. Schochen, 1994, ISBN 978-0-8052-1022-4, Seite 174f
8 bBrachot 34b [Goldschmidt, Jüdischer Verlag, 1996, Band 1, Seite 155]
9 Seder Ha-Tefilot – Das jüdische Gebetbuch, Jonathan Magonet/ Walter Homolka (HG.), Übersetzung Annette Böckler, Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2001, ISBN 3-934658-24-5, Seite 181

3 Comments

  1. Chayim

    Toller Beitrag. Imnformativ und gut geschrieben.

  2. theolounge

    Hallo,

    hast Du Lust, bei uns ab und an mitzuschreiben, bzw. auf Beiträge von Dir zu verlinken oder sie bei uns reinzukopieren (wie es Dir lieber wäre) ?

    also hier: http://www.theologisch.com

    Wäre schön, wenn wir auch eine jüdische Sicht hier hätten…

    Viele Grüße,
    Marc
    &theologisch.com team

  3. Helga

    Hallo, Adrian, Dein Beitrag macht Lust darauf, mehr über dieses interessante Thema zu lesen und Bezüge zu christlichen Gebeten aufzufinden. Ich werde mal versuchen, meine christl. theologischen Freunde zu animieren, dem nach zu gehen.

    Herzlichen Gruß aus Norddeutschland
    Helga

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