Tag: 5772

Ohne Abschied geht es nicht – Shabbat Schuva

Der vergangene Schabbat war einer dieser besonderen Schabbatot, die ich persönlich sehr schätze. Er passt perfekt in diese Zeit. An ihm empfinde ich eine besondere Stimmung. Das Festliche von Rosch HaSchana liegt noch in der Luft und die nachdenkliche Stimmung der 10 Bußtage und von Jom Kippur sind fast greifbar.

Der Schabbat trägt den Namen „Schabbat Schuva“ – der Schabbat der Umkehr. Natürlich ist das auf die Hohen Feiertage bezogen. Dieser Schabbat soll uns auf dem Weg der Umkehr, der Teschuva, bestärken.

Es ist ein Teil unserer jüdischen Tradition, dass wir genau an diesem Schabbat den Wochenabschnitt „Ha’asinu“ lesen, gemeinsam mit allen anderen jüdischen Gemeinden. Im vorletzten Wochenabschnitt der Tora begegnet uns Mosche zum letzten Mal in einer großen Ansprache an das ganze Volk. In einem großen Gebet, das sehr poetisch verfasst ist, spricht er über die Gerechtigkeit Gottes und darüber, dass G’tt der Retter Israels war und ist, auch wenn das Volk immer wieder dem Götzendienst verfallen war. Mosche ermahnt die Israeliten die Tora in ihrem Herzen zu tragen, den sie ist unser Leben. Nach dieser Ansprache ruft G’tt Mosche auf den Berg Nebo, an der Grenze zu Kana’an, dem versprochenen Land. Von dort hat Mosche die Möglichkeit, das ganze Land zu überblicken. Aber G’tt macht auch klar, dass Mosche nicht mit über den Jordan ziehen darf. Er muss zurück bleiben.

Für mich ist es kein Zufall, dass dieser Wochenabschnitt genau am Schabbat zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur gelesen wird. Spiegelt er doch genau die Gefühle wieder, die so prägend für diesen Schabbat sind. Wir ziehen wie Mosche Bilanz, schauen zurück, hoffen, dass das, was wir in Vergangenheit gemacht haben, Früchte tragen wird. Und wir schauen in die Zukunft. Wir blicken auf das „Land, das wir erobern müssen“, auf das neue Jahr vor uns. Auch wenn wir schon gemeinsam den Jahresanfang in den Tagen zuvor gefeiert haben, so richtig sind wir noch nicht angekommen. Und die Mahnungen von Mosche an die Israeliten sind auch für unseren Weg von Bedeutung.

Dieser Wochenabschnitt trägt neben dem Nachdenklichen auch etwas trauriges in sich. G’tt Erinnerung an Mosche, dass dieser nicht selbst ins Land Kana’an einziehen darf ist Jahr für Jahr eine traurige Mahnung, dass unser Handeln auch Konsequenzen haben kann, die nicht erstrebenswert sind. Zudem stehen die Schilderungen von Mosches Tod unmittelbar bevor. Ein Abschied, den wir Jahr für Jahr – wie alle Generationen vor uns – genau zu diesem Zeitpunkt im Kalender vollziehen müssen. Gerade dieser Teil birgt eine wichtige Lehre für uns. Der Wochenabschnitt vermittelt uns die Botschaft, dass jeder Neuanfang auch ein Loslassen beinhaltet.

Ein Abschiednehmen gehört zu jedem Neubeginn.

Zum Beispiel gehörte zum Einzug in unsere neue, wunderbare Synagoge in Hameln, dass wir die alten Räume zurücklassen mussten. Das war zwar einfach, aber denkt man an die vielen schönen Momente, die wir auch in der alten Synagoge hatten, schleicht sich doch ein bisschen Wehmut mit ein. Die alten Räume waren vertraut und eine Heimat, die zu verlassen schon nicht mehr ganz so leicht war. Heimat ist ein weiteres Stichwort. Eigentlich fast jeder von uns ist schon mehrfach in seinem Leben umgezogen. Das ist Teil unserer mobilen Welt. Einige haben sogar Ländergrenzen auf ihrer „Reise“ überwunden. Jeder weiß, dass der Abschied trotz aller Vorfreude auf das Neue sehr schmerzhaft sein kann. Freundschaften, Liebe, Partnerschaften – nichts gibt es ohne Abschiednehmen. Und sei es nur ein Abschied von der Einsamkeit. Loslassen hat immer beide Seiten. Etwas trauriges und etwas schönes.

Der Wochenabschnitt Ha’asinu beschreibt genau das:
Der Neuanfang, die Eroberung des Landes Kana’an hätte nicht gelingen können, wenn Mosche weiterhin der Anführer der Israeliten geblieben wäre. Neue Wege brauchten neue Strategien. Um neue Wege beschreiten zu können, braucht man auch Freiraum, Freiraum um sich entfalten zu können. Wie hätte eine neue Generation von Anführern die notwendige Autorität gewinnen können, wenn Mosche noch immer an der Spitze gestanden hätte.

Für uns, jetzt und heute, ist die Botschaft die gleiche. Umkehr bedeutet nicht, dass wir irgendwohin zurückgehen sollen. Umkehr bedeutet, dass wir einen Weg beschreiten sollen, in dem das g’ttliche mehr Platz in unserem Alltag findet. Das sind eventuell sogar „Orte“, die völliges Neuland für uns sind. Im gehört dazu, dass wir etwas zurücklassen müssen. Vielleicht eine liebgewordene Angewohnheit, oder etwas, dass uns das Gefühl von Sicherheit gegeben hat, vielleicht nur gewisse Routinen. Hoffentlich ist auch etwas dabei, das wir gerne zurücklassen. Abschied muss nicht immer etwas schlechtes sein. Nur, ohne Abschied geht es nicht.

Das ist die Botschaft von diesem Wochenabschnitt und von diesem besonderen Schabbat. In wenigen Tagen ist Jom Kippur. Möge die verbleibende Zeit bis dahin Euch helfen, Eure eigenen Wege zu finden. Und wem das nicht reicht. Jeder Tag ist auch ein neuer Tag. Jom Kippur, Teschuva und ein Neubeginn braucht keinen festen Tag im Kalender, sondern nur einen festen Willen.

Gmar Chatima Tova

Es ist soweit – Gedanken zum Jahreswechsel

Liebe Leser,

es ist soweit.

Hinter uns liegt ein weiteres Jahr. Wieder is ein Jahr vorrüber. Ein Jahr, das für einige von uns sehr spannend und schön war, da uns so viel Neues begegnete. Für die Gemeinde in Hameln z.B. war es ein großartiges Jahr. Mit der neuen Synagoge haben sie einen wichtigen Grundpfeiler für die Zukunft der Gemeinde errichtet. Für einige war es ein fröhliches Jahr. Wir haben tolle Feste und Feiern in allen jüdischen Gemeinden gehabt, Hochzeiten bis Bar/Bat-Mitzwa-Feiern. Einige von Euch haben ein wichtiges Ziel in ihrem Leben erreicht: Gute Schulnoten, Erfolg im Beruf, Geburt von Kindern, neue Freundschaften, sich verliebt und vieles mehr. Und für andere war es ein trauriges Jahr: jemand den man geliebt hat, ist verstorben, oder umgezogen. Man hatte Streit mit Freunden – man konnte nicht das erreichen, was man wollte.

Das vergangene Jahr war so voll, dass man kaum gemerkt hat, wie es vorbei gegangen ist. Wenn wir trotzdem genauer hinschauen, werden wir auch sehen, dass das vergangene Jahr, für jeden von uns nicht nur schön und nicht nur traurig war. Es war nicht nur aufregend, sondern manchmal auch langweilig und voller Routine. Und wenn wir noch genauer hinsehen, dann machen wir vielleicht eine erstaunliche Entdeckung: Das vergangene Jahr war irgendwie genauso wie alle anderen Jahre zuvor. Auch im Jahr 5770, 5769, 68, 67 … gab es aufregende Momente und traurige, fröhliche und schwierige, spannende und langweilige. Jedes Jahr hatte für jeden von uns ein bisschen von allem.

Man könnte also ein bisschen frech fragen, warum wir eigentlich Rosch HaSchana feiern? Warum markieren wir das Ende und den Anfang eines Jahres,? Die Zeit läuft doch normal weiter? Ändert sich irgendetwas, wenn wir Rosch HaSchana nicht feiern? Wird sich irgendetwas beim täglichen Blick in die Zeitung verändern, nur weil wir ein neues Jahr begonnen haben?
Meine Antwort an Euch lautet: Hoffentlich JA.

Rosch HaSchana hält nicht die Uhren an. Die Welt bleibt nicht stehen. Leider wird es weiter Kriege, Hungersnot und Gewalt geben. Leider wird es Naturkatastrophen auch im nächsten Jahr geben. Glücklicherweise werden wir im nächsten Jahr auch erleben können, dass Menschen sich in einander verlieben werden, dass Kinder geboren werden. Wir werden selbst Erfolgserlebnisse feiern können. Wir werden Zeugen von wichtigen Ereignissen werden. Von Friedensabkommen, großen menschlichen Gesten und noch vielen weiteren bewegenden Momenten.

All das wird stattfinden, egal ob wir Rosch HaSchana feiern, oder nicht. Aber dazu sind Rosch HaSchana und die Hohen Feiertage auch nicht da. Die Feiertage werden die Welt nicht verändern, aber hoffentlich Euch. Sie sind für jeden von Euch ganz persönlich. Die Feiertage halten Eure persönliche Zeit an. Heute, morgen, in den kommenden Tagen bis Jom Kippur und an Jom Kippur selbst, kann jeder von Euch die Chance nutzen, zurück zu blicken.
Wie war mein Jahr? Was habe ich erreicht? Was habe ich nicht erreicht?
Wie geht es mir? Wie geht es meiner Familie? Wie geht es meinen Freunden?
Habe ich Dinge getan, die gut für andere waren?
Habe ich Dinge getan, die schlecht für andere waren?
An welche Momente möchte ich mich gerne zurück erinnern?
Und an welche Momente lieber nicht?
Wo war Gott für mich im vergangenen Jahr?

Ganz ehrlich. Gäbe es die Hohen Feiertage nicht, würden wir ganz schnell vergessen, uns mal hinzusetzen und Bilanz zu ziehen. Zurück zu schauen ist nicht einfach und manchmal sogar sehr schmerzhaft. Würde es nicht Rosch HaSchana geben, dann hätten wir viele Ausreden, warum wir gerade jetzt keine Zeit haben, uns eine Auszeit zu nehmen. Dabei ist es in meinen Augen sehr wichtig, zu betrachten, was wir in der Vergangenheit erlebt haben. Ein Sprichwort sagt, dass man aus Fehlern lernt. Wie soll man aber aus Fehlern lernen können, wenn man sich nicht die Zeit dafür nimmt, sie wahrzunehmen? Es heißt, dass wir durch schwierige Situationen wachsen und stärker werden? Aber auch dafür brauchen wir Zeit. Wir brauchen Zeit um analysieren zu können, was schwer war und was einfach. Wir erklären Kindern, dass jeder Schritt den wir tun uns einem Ziel näher bringen. Wenn wir aber uns nicht ab und an Zeit nehmen, darüber nachzudenken, welche Ziele wir erreichen wollen, laufen wir nur blind durch unser Leben.

Die kommenden Tage sind wie ein Geschenk für uns. Sie geben uns die Möglichkeit das zu sehen, was normalerweise wie Wasser in einem Fluss an uns vorbeifließt. Die Hohen Feiertage sind unser großes Stoppschild. In den kommenden Tagen haben wir genügend Zeit, Kraft zu tanken, uns Ziele zu setzen. Wir haben Zeit uns auszuruhen. Wir können Fehler, die wir gemacht haben, versuchen zu korrigieren. Wir können Freundschaften reparieren, die in den vergangen Monaten zerbrochen sind, wir haben die Möglichkeit mit unseren Familien, unseren Freunden und mit der gesamten Gemeinde Zeit zu verbringen.

Viele von Euch wissen, dass ich auf die Frage „wo man G’tt finden kann?“ immer antworte, dass G’tt in jedem Menschen zu finden ist. Das wir alle etwas g”ttliches in uns tragen. Unsere Tradition besagt, dass wir zu den Hohen Feiertagen zu G’tt zurückkehren sollen – Teschuva machen sollen. Zu aller erst heißt das, dass wir uns die Zeit nehmen, uns selbst anzuschauen. Nehmt Euch die Zeit, das g”ttliche in Euch wahrzunehmen. Bei aller Hektik des Alltags, sollte das bei keinem von Euch verloren gehen. Nutzt die Zeit der nächsten Tage, Kraft für das neue Jahr zu sammeln.

Ich wünsche Euch allen ein gutes Neues Jahr. Möge es ein Jahr sein, dass viel Freude und Zufriedenheit für Euch bereit hält. Möge es ein Jahr sein, dass voller Momente ist, an denen wir wachsen können. Und möge es ein Jahr sein, dass genügend Momente für Euch bereit hält, in denen Ihr Zeit findet, zu sehen, was um Euch herum und mit Euch geschieht. Möge es ein gesegnetes Jahr sein.
Schana Tova