Liebe Leser,

es ist soweit.

Hinter uns liegt ein weiteres Jahr. Wieder is ein Jahr vorrüber. Ein Jahr, das für einige von uns sehr spannend und schön war, da uns so viel Neues begegnete. Für die Gemeinde in Hameln z.B. war es ein großartiges Jahr. Mit der neuen Synagoge haben sie einen wichtigen Grundpfeiler für die Zukunft der Gemeinde errichtet. Für einige war es ein fröhliches Jahr. Wir haben tolle Feste und Feiern in allen jüdischen Gemeinden gehabt, Hochzeiten bis Bar/Bat-Mitzwa-Feiern. Einige von Euch haben ein wichtiges Ziel in ihrem Leben erreicht: Gute Schulnoten, Erfolg im Beruf, Geburt von Kindern, neue Freundschaften, sich verliebt und vieles mehr. Und für andere war es ein trauriges Jahr: jemand den man geliebt hat, ist verstorben, oder umgezogen. Man hatte Streit mit Freunden – man konnte nicht das erreichen, was man wollte.

Das vergangene Jahr war so voll, dass man kaum gemerkt hat, wie es vorbei gegangen ist. Wenn wir trotzdem genauer hinschauen, werden wir auch sehen, dass das vergangene Jahr, für jeden von uns nicht nur schön und nicht nur traurig war. Es war nicht nur aufregend, sondern manchmal auch langweilig und voller Routine. Und wenn wir noch genauer hinsehen, dann machen wir vielleicht eine erstaunliche Entdeckung: Das vergangene Jahr war irgendwie genauso wie alle anderen Jahre zuvor. Auch im Jahr 5770, 5769, 68, 67 … gab es aufregende Momente und traurige, fröhliche und schwierige, spannende und langweilige. Jedes Jahr hatte für jeden von uns ein bisschen von allem.

Man könnte also ein bisschen frech fragen, warum wir eigentlich Rosch HaSchana feiern? Warum markieren wir das Ende und den Anfang eines Jahres,? Die Zeit läuft doch normal weiter? Ändert sich irgendetwas, wenn wir Rosch HaSchana nicht feiern? Wird sich irgendetwas beim täglichen Blick in die Zeitung verändern, nur weil wir ein neues Jahr begonnen haben?
Meine Antwort an Euch lautet: Hoffentlich JA.

Rosch HaSchana hält nicht die Uhren an. Die Welt bleibt nicht stehen. Leider wird es weiter Kriege, Hungersnot und Gewalt geben. Leider wird es Naturkatastrophen auch im nächsten Jahr geben. Glücklicherweise werden wir im nächsten Jahr auch erleben können, dass Menschen sich in einander verlieben werden, dass Kinder geboren werden. Wir werden selbst Erfolgserlebnisse feiern können. Wir werden Zeugen von wichtigen Ereignissen werden. Von Friedensabkommen, großen menschlichen Gesten und noch vielen weiteren bewegenden Momenten.

All das wird stattfinden, egal ob wir Rosch HaSchana feiern, oder nicht. Aber dazu sind Rosch HaSchana und die Hohen Feiertage auch nicht da. Die Feiertage werden die Welt nicht verändern, aber hoffentlich Euch. Sie sind für jeden von Euch ganz persönlich. Die Feiertage halten Eure persönliche Zeit an. Heute, morgen, in den kommenden Tagen bis Jom Kippur und an Jom Kippur selbst, kann jeder von Euch die Chance nutzen, zurück zu blicken.
Wie war mein Jahr? Was habe ich erreicht? Was habe ich nicht erreicht?
Wie geht es mir? Wie geht es meiner Familie? Wie geht es meinen Freunden?
Habe ich Dinge getan, die gut für andere waren?
Habe ich Dinge getan, die schlecht für andere waren?
An welche Momente möchte ich mich gerne zurück erinnern?
Und an welche Momente lieber nicht?
Wo war Gott für mich im vergangenen Jahr?

Ganz ehrlich. Gäbe es die Hohen Feiertage nicht, würden wir ganz schnell vergessen, uns mal hinzusetzen und Bilanz zu ziehen. Zurück zu schauen ist nicht einfach und manchmal sogar sehr schmerzhaft. Würde es nicht Rosch HaSchana geben, dann hätten wir viele Ausreden, warum wir gerade jetzt keine Zeit haben, uns eine Auszeit zu nehmen. Dabei ist es in meinen Augen sehr wichtig, zu betrachten, was wir in der Vergangenheit erlebt haben. Ein Sprichwort sagt, dass man aus Fehlern lernt. Wie soll man aber aus Fehlern lernen können, wenn man sich nicht die Zeit dafür nimmt, sie wahrzunehmen? Es heißt, dass wir durch schwierige Situationen wachsen und stärker werden? Aber auch dafür brauchen wir Zeit. Wir brauchen Zeit um analysieren zu können, was schwer war und was einfach. Wir erklären Kindern, dass jeder Schritt den wir tun uns einem Ziel näher bringen. Wenn wir aber uns nicht ab und an Zeit nehmen, darüber nachzudenken, welche Ziele wir erreichen wollen, laufen wir nur blind durch unser Leben.

Die kommenden Tage sind wie ein Geschenk für uns. Sie geben uns die Möglichkeit das zu sehen, was normalerweise wie Wasser in einem Fluss an uns vorbeifließt. Die Hohen Feiertage sind unser großes Stoppschild. In den kommenden Tagen haben wir genügend Zeit, Kraft zu tanken, uns Ziele zu setzen. Wir haben Zeit uns auszuruhen. Wir können Fehler, die wir gemacht haben, versuchen zu korrigieren. Wir können Freundschaften reparieren, die in den vergangen Monaten zerbrochen sind, wir haben die Möglichkeit mit unseren Familien, unseren Freunden und mit der gesamten Gemeinde Zeit zu verbringen.

Viele von Euch wissen, dass ich auf die Frage „wo man G’tt finden kann?“ immer antworte, dass G’tt in jedem Menschen zu finden ist. Das wir alle etwas g”ttliches in uns tragen. Unsere Tradition besagt, dass wir zu den Hohen Feiertagen zu G’tt zurückkehren sollen – Teschuva machen sollen. Zu aller erst heißt das, dass wir uns die Zeit nehmen, uns selbst anzuschauen. Nehmt Euch die Zeit, das g”ttliche in Euch wahrzunehmen. Bei aller Hektik des Alltags, sollte das bei keinem von Euch verloren gehen. Nutzt die Zeit der nächsten Tage, Kraft für das neue Jahr zu sammeln.

Ich wünsche Euch allen ein gutes Neues Jahr. Möge es ein Jahr sein, dass viel Freude und Zufriedenheit für Euch bereit hält. Möge es ein Jahr sein, dass voller Momente ist, an denen wir wachsen können. Und möge es ein Jahr sein, dass genügend Momente für Euch bereit hält, in denen Ihr Zeit findet, zu sehen, was um Euch herum und mit Euch geschieht. Möge es ein gesegnetes Jahr sein.
Schana Tova