Der vergangene Schabbat war einer dieser besonderen Schabbatot, die ich persönlich sehr schätze. Er passt perfekt in diese Zeit. An ihm empfinde ich eine besondere Stimmung. Das Festliche von Rosch HaSchana liegt noch in der Luft und die nachdenkliche Stimmung der 10 Bußtage und von Jom Kippur sind fast greifbar.
Der Schabbat trägt den Namen „Schabbat Schuva“ – der Schabbat der Umkehr. Natürlich ist das auf die Hohen Feiertage bezogen. Dieser Schabbat soll uns auf dem Weg der Umkehr, der Teschuva, bestärken.
Es ist ein Teil unserer jüdischen Tradition, dass wir genau an diesem Schabbat den Wochenabschnitt „Ha’asinu“ lesen, gemeinsam mit allen anderen jüdischen Gemeinden. Im vorletzten Wochenabschnitt der Tora begegnet uns Mosche zum letzten Mal in einer großen Ansprache an das ganze Volk. In einem großen Gebet, das sehr poetisch verfasst ist, spricht er über die Gerechtigkeit Gottes und darüber, dass G’tt der Retter Israels war und ist, auch wenn das Volk immer wieder dem Götzendienst verfallen war. Mosche ermahnt die Israeliten die Tora in ihrem Herzen zu tragen, den sie ist unser Leben. Nach dieser Ansprache ruft G’tt Mosche auf den Berg Nebo, an der Grenze zu Kana’an, dem versprochenen Land. Von dort hat Mosche die Möglichkeit, das ganze Land zu überblicken. Aber G’tt macht auch klar, dass Mosche nicht mit über den Jordan ziehen darf. Er muss zurück bleiben.
Für mich ist es kein Zufall, dass dieser Wochenabschnitt genau am Schabbat zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur gelesen wird. Spiegelt er doch genau die Gefühle wieder, die so prägend für diesen Schabbat sind. Wir ziehen wie Mosche Bilanz, schauen zurück, hoffen, dass das, was wir in Vergangenheit gemacht haben, Früchte tragen wird. Und wir schauen in die Zukunft. Wir blicken auf das „Land, das wir erobern müssen“, auf das neue Jahr vor uns. Auch wenn wir schon gemeinsam den Jahresanfang in den Tagen zuvor gefeiert haben, so richtig sind wir noch nicht angekommen. Und die Mahnungen von Mosche an die Israeliten sind auch für unseren Weg von Bedeutung.
Dieser Wochenabschnitt trägt neben dem Nachdenklichen auch etwas trauriges in sich. G’tt Erinnerung an Mosche, dass dieser nicht selbst ins Land Kana’an einziehen darf ist Jahr für Jahr eine traurige Mahnung, dass unser Handeln auch Konsequenzen haben kann, die nicht erstrebenswert sind. Zudem stehen die Schilderungen von Mosches Tod unmittelbar bevor. Ein Abschied, den wir Jahr für Jahr – wie alle Generationen vor uns – genau zu diesem Zeitpunkt im Kalender vollziehen müssen. Gerade dieser Teil birgt eine wichtige Lehre für uns. Der Wochenabschnitt vermittelt uns die Botschaft, dass jeder Neuanfang auch ein Loslassen beinhaltet.
Ein Abschiednehmen gehört zu jedem Neubeginn.
Zum Beispiel gehörte zum Einzug in unsere neue, wunderbare Synagoge in Hameln, dass wir die alten Räume zurücklassen mussten. Das war zwar einfach, aber denkt man an die vielen schönen Momente, die wir auch in der alten Synagoge hatten, schleicht sich doch ein bisschen Wehmut mit ein. Die alten Räume waren vertraut und eine Heimat, die zu verlassen schon nicht mehr ganz so leicht war. Heimat ist ein weiteres Stichwort. Eigentlich fast jeder von uns ist schon mehrfach in seinem Leben umgezogen. Das ist Teil unserer mobilen Welt. Einige haben sogar Ländergrenzen auf ihrer „Reise“ überwunden. Jeder weiß, dass der Abschied trotz aller Vorfreude auf das Neue sehr schmerzhaft sein kann. Freundschaften, Liebe, Partnerschaften – nichts gibt es ohne Abschiednehmen. Und sei es nur ein Abschied von der Einsamkeit. Loslassen hat immer beide Seiten. Etwas trauriges und etwas schönes.
Der Wochenabschnitt Ha’asinu beschreibt genau das:
Der Neuanfang, die Eroberung des Landes Kana’an hätte nicht gelingen können, wenn Mosche weiterhin der Anführer der Israeliten geblieben wäre. Neue Wege brauchten neue Strategien. Um neue Wege beschreiten zu können, braucht man auch Freiraum, Freiraum um sich entfalten zu können. Wie hätte eine neue Generation von Anführern die notwendige Autorität gewinnen können, wenn Mosche noch immer an der Spitze gestanden hätte.
Für uns, jetzt und heute, ist die Botschaft die gleiche. Umkehr bedeutet nicht, dass wir irgendwohin zurückgehen sollen. Umkehr bedeutet, dass wir einen Weg beschreiten sollen, in dem das g’ttliche mehr Platz in unserem Alltag findet. Das sind eventuell sogar „Orte“, die völliges Neuland für uns sind. Im gehört dazu, dass wir etwas zurücklassen müssen. Vielleicht eine liebgewordene Angewohnheit, oder etwas, dass uns das Gefühl von Sicherheit gegeben hat, vielleicht nur gewisse Routinen. Hoffentlich ist auch etwas dabei, das wir gerne zurücklassen. Abschied muss nicht immer etwas schlechtes sein. Nur, ohne Abschied geht es nicht.
Das ist die Botschaft von diesem Wochenabschnitt und von diesem besonderen Schabbat. In wenigen Tagen ist Jom Kippur. Möge die verbleibende Zeit bis dahin Euch helfen, Eure eigenen Wege zu finden. Und wem das nicht reicht. Jeder Tag ist auch ein neuer Tag. Jom Kippur, Teschuva und ein Neubeginn braucht keinen festen Tag im Kalender, sondern nur einen festen Willen.
Gmar Chatima Tova