einer meiner leser hat zu meinem letzten artikel kommentiert, dass ich/juden zu wenig selbstkritisch bin/sind. hier meine stellungnahme:
Lieber Gray,
wenn sie sich ein bisschen meine ersten artikel zu der karfreitagsfürbitte durchgelesen haben, betrache ich die entwicklung durch aus in verschiedenen richtungen. ich honoriere vor allem die aus der kirche vorgeschlagenen lösungswege, wie z.b. die nach dem neuen ritus geltende fürbitte eins zu eins in den alten ritus zu übernehmen.
natürlich gibt es in der jüdischen liturgie auch polemiken gegen nicht-jüdische religionsverständnisse. und gerade die reformbewegung ist sich dem bewusst und hat viele traditionelle gebete abgeändert. bestes beispiel ist das gebet “Birkat Minim” in der amida. auch wenn es sich in der ursprünglichen intention gegen die “abtrünnigen” aus den eigenen reihen wendet, wurde es gerade durch christliche interpreten als anti-christlich eingestuft. in der reform-liturgie ist es nun dahingehend geändert, dass es der ursprünglichen intention näher kommt und über die wandlung des “bösen” im menschen zum guten bittet. auch das aleinu gebet hat diese wandlung erfahren.
ich bin mir sicher, dass die katholische liturgie einige gebete aufweist, die sich gegen den nicht-monotheistischen glauben wendet und so finden wir auch diese in der jüdischen liturgie. da die kirchen die gleichen quellen (d.h. die heiligen schriften – vor allem die propheten) verwendet, die auch die basis für unsere liturgie darstellt, sind diese analogien schon von natur aus gegeben.
was mich aber dennoch zu der deutlichen kritik an der katholischen kirche veranlasst, ist die tatsache, dass die fürbitte “neu” ist. sie ist wider die lehrmeinung, die nach dem zweiten vatikanischen konzil maßgebend war, vom papst selbst verfasst worden. und sie spricht nicht vom generellen wunsch, den eigenen glauben zu verbreiten, sondern spricht explizit nur von uns juden. es tut mir leid, aber ich fühle mich tatsächlich auf den fuss getreten. und im unterschied zu den jahrhunderten davor, schreie ich/schreien wir juden jetzt auf, wenn man uns zu nahe tritt. das gleiche recht hat auch die katholische kirche in umgekehrter richtung.
das gleiche gilt auch für den holocaust-leugner wiliamson. seit monate fährt die kirche zweigleisig. sie kritisiert zwar wiliamson, aber gleichzeitig steht sie weiter in direkten verhandlungen mit der bruderschaft und ist weiterhin bereit auch wiliamson wieder voll aufzunehmen. welches verheerende signal sendet uns da rom?
meine kritik an der aufarbeitung der missbrauchsfälle, die derzeit überall zum vorschein kommen richtet sich im wesentlichen nur an den papst. er schweigt. kirchen sind wie andere religiöse einrichtungen auch, institutionen, die werte vorgeben und besipielhaft vorangehen müssen. viele der missbrauchsfälle sind nur deshalb möglich (und damit meine ich nicht nur innerhalb der kirche, sondern gesamtgesellschaftlich), weil jemand schweigt, weil die hilferufe der opfer nicht gehört werden.
unsere gesellschaft steuert auf das große schweigen zu. lieber man schaut weg, als sich zu äußern. unsere religionen basieren aber eigentlich auf einem anderen konzept. wir sollen zeugnis geben. zeugnis geben verlangt, dass man den mund auf macht und stellung bezieht.
ich gebe zu, meine kritik war zuletzt sehr polemisch und ich akzeptiere die rüge. nicht ganz stehen lassen möchte ich aber, dass ich durchaus kritisch das judentum betrachte. insbesondere, wenn moderne entwicklungen zu einer spaltung des judentums führen, oder wenn eine strömung versucht, einer anderen ihren eigenen willen aufzuzwängen. aber wie so oft, ist selbstkritik schwerer als anders herum und ich freue mich auf kritische anfragen, die mir helfen, missstände zu erkennen.