Die Ankündigung zu der Frage dieser Woche lautete: Diesmal kein heißes Eisen, nur eine einfache Verständnisfrage: Warum beginnt der jüdische Tag am Abend?
Wie so oft, gibt es zwar zunächst eine schnelle Antwort auf die Frage:
In Anlehnung an den Schöpfungsbericht der Bibel (1. Kapitel) können wir lernen, dass im Tagesablauf der Morgen auf den Abend folgt. Nach jedem Schöpfungsakt finden wir die Zeile: Und es war Abend und es war Morgen, der zweite, der dritte … Tag.
Aber, so richtig zufriedenstellend ist die Antwort nicht. Ein Grund liegt darin, dass man zwar schnell etwas aus der Bibel ableiten kann, jedoch auch genau das Gegenteil, wenn man möchte. Bestes Beispiel hierfür ist folgender Satz aus In Vajikra 7.15 (3. Buch Moses):
Und das Fleisch seines Dank-Heilsopfers soll am Tag seiner Darbringung gegessen werden; er soll nichts davon liegen lassen bis zum Morgen.
d.h., wir finden hier ein Beispiel für einen anderen Tagesablauf in der Bibel vor. Die Nacht gehört noch zum vorherigen Tag und der Tagesbeginn ist der Sonnenaufgang.
Der babylonische Talmud leitet aus diesem Torah-Zitat ab, dass man, sollte man vergessen haben, das Gebet am Nachmittag zu sprechen, es am Abend nachholen kann (B. Berachot 26a-b), der Abend und die ganze Nacht gehören noch zum vorherigen Tag. [Nur um die Verwirrung komplett zu machen, im selben Talmudtraktat (Brachot 2a) diskutieren die Rabbiner, von wann bis wann man das Schmah-Gebet (Schmah Israel) am Abend sagen kann, bevor sie über das Schmah am Morgen sprechen, was dafür spricht, dass der Tagesablauf der Ordnung aus der Schöpfungsgeschichte folgt.]
Selbst wenn die Gebetszeiten nicht nach dem Tempelritual angeordnet wurden, gibt es noch andere Möglichkeiten, die darauf hinweisen, dass der Tag der Nacht vorausgeht. Der Talmud gibt eine Idee wieder, dass die Vorväter die drei Gebetszeiten eingeführt haben. Avraham den Schacharit, den Morgeng’ttesdienst, Jitzchak hat das Mincha-/Nachmittagsgebet etabliert und Jaakov ist der Begründer des G’ttesdienstes am Abend (Aravit). Man kann logischer Weise annehmen, dass der erste Vorvater auch den ersten G’ttesdienst im Tagesablauf etabliert hat. Das ist demnach der Schacharit- und nicht der Aravit-G‘ttesdienst. Weitere Beispiele in denen der Tag der Nacht vorausgeht, lassen sich in Exodus 18:13-14 und am Ende der Torah (Devarim 28:67) finden:
2. Mose 18:13 Und es geschah am Tag darauf, da setzte Mose sich nieder, um dem Volk Recht zu sprechen.
Und das Volk stand bei Mose vom Morgen bis zum Abend.
14 … Warum sitzt du allein da, während alles Volk vom Morgen bis zum Abend bei dir steht?
5. Mose 28:67 Am Morgen wirst du sagen: Wäre es doch Abend!,
und am Abend wirst du sagen: Wäre es doch Morgen!
Um eine lange Geschichte kurz zu machen, können wir sagen, dass uns die jüdische Tradition zwei Paradigmen für den Tagesablauf anbietet. Rabbi Levi Cooper (Pardes, Jerusalem) führt dazu aus, dass die generelle Regel die ist, dass die Nacht den Tag einleitet und, dass dies Einfluss auf das ganze jüdische Leben hat (z.B. alle Feiertage beginnen am Abend, inkl. des wöchentlichen Schabbats). Die andere Sichtweise war, nach der Auslegung von Rabbi Cooper, für den Tempel vorbehalten.
Zum Ende möchte ich eine Überlegung anbieten, die vielleicht eine mögliche Antwort darauf geben kann, warum das Gebet am Abend, das erste im Tagesablauf war und letztendlich auch dazu geführt hat, dass der Tagesbeginn mit dem Einsetzen der Dunkelheit gleichgesetzt wurde: In einer Zeit, in der wir noch nicht durch künstliches Licht die Nacht buchstäblich zum Tag machen konnten, hatte die Nacht etwas erschreckendes, beängstigendes. Und auch heute noch, während wir Schlafen verlieren wir zusätzlich die Kontrolle über unseren Körper, wir „Sterben“ ein wenig, Grund genug, sich Sorgen zu machen. Es ist also naheliegend, dass wir für diese gefahrenvolle Zeit Schutz erbitten. Und am nächsten Morgen bedanken wir uns dafür, dass wir wieder aufgewacht sind, dass wir nicht in der Nacht überfallen wurden, dass G’tt uns unsere Seele wieder zurückgegeben hat (ich empfehle an dieser Stelle mal einen Blick in das jüdische Gebetbuch zu werfen und sich die Gebete vor dem Einschlafen und die Gebete am Morgen anzuschauen).
Dass das jüdische Zeitverständnis noch mehr Kuriositäten, oder besser gesagt, Unterschiede zum christlichen/westlichen Verständnis hat, brauche ich wohl nicht zu betonen. Für dieses Mal, schließe ich jedoch und wünsche eine Gute Zeit.
Der Artikel ist zuerst auf HaOlam veröffentlicht worden.