Viele von Euch erinnern sich vielleicht noch daran, dass sie als Kind irgendwann ein Fahrrad geschenkt bekommen haben. Ich erinnere mich auch noch daran. Mit dem Fahrrad habe ich damals ein Stück Unabhängigkeit bekommen und ich erinnere mich auch noch gut daran, wie ich einige Jahre lang mit dem Fahrrad täglich zu meinen Freunden gefahren bin und meine Welt entdeckt habe. Ich habe recht spät gelernt, mit dem Fahrrad zu fahren und ich weiß noch, dass es nicht einfach war, es zu lernen. Heute kann ich mir zudem ganz gut vorstellen, dass es nicht nur schwer für mich war, sondern irgendwie auch für meine Eltern. Das schöne war, dass mein Vater aber nie aufgehört hat, mit mir zu üben.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Eltern neben mir herliefen, mich festhielten und mir dabei halfen, die Balance zu halten, damit ich nicht fallen würde. Irgendwann waren sie sich sicher, dass ich nun alleine fahren könnte und ließen los. Zum Fahrradfahren lernen gehört, dass Eltern irgendwann loslassen müssen, auch wenn es bedeutet, dass das Kind eventuell auch mal fallen könnte. Es geht nicht ohne den Moment, in dem Eltern sich zurückziehen müssen und dem Kind die Freiheit geben, alleine loszufahren. Heute weiß ich, dass dies kein einfacher Augenblick für Eltern ist. Und ich weiß auch noch gut, dass ich auf der einen Seite sehr stolz war, nun alleine fahren zu können, aber auf der anderen Seite es auch vermisste, dass meine Eltern neben mir herliefen.

Manchmal denke ich mir, dass man unsere Beziehung zu Gott am Besten mit der Beziehung zu unseren Eltern vergleichen kann. In unserer Generation fahren wir auf unseren Fahrrädern und Gott steht an der Seite. Das soll nicht heißen, dass Gott abwesend sei, oder gar uninteressiert ist. Eher, dass Gott zuschaut, freundlich lächelt, wenn wir alleine vorwärts kommen und mit uns weint, wenn wir fallen.

Dass dies nicht immer so war und welchen Weg unsere Beziehung zu Gott genommen hat, können wir nachlesen, wenn wir die Erzählungen in unserer Tora studieren. Zum Beispiel in unserem Wochenabschnitt (Beha’alotecha). Hier beginnt die Wanderung der Israeliten durch die Wüste und Gott ist gut erkennbar an der Spitze, um sein Volk zu unterstützen und zu führen:

Num. 9.15 An dem Tag, als man die Wohnstätte aufstellte, bedeckte eine Wolke die Wohnstätte, das Zelt der Bundesurkunde. Am Abend legte sie sich wie ein Feuerschein über die Wohnstätte und blieb dort bis zum Morgen. 16 So war es die ganze Zeit: Bei Tag bedeckte die Wolke die Wohnstätte und bei Nacht der Feuerschein. 17 Jedes Mal, wenn sich die Wolke über dem Zelt erhob, brachen die Israeliten auf, und wo sich die Wolke niederließ, dort schlugen die Israeliten ihr Lager auf. 18 Nach dem Gebot des Ewigen brachen die Israeliten auf und nach dem Gebot des Ewigen schlugen sie ihr Lager auf. Solange die Wolke über der Wohnstätte lag, blieben sie im Lager.

Es erscheint einem so, als ob Gott unwillig, oder ob es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war, dem Volk zu erlauben, eigene Schritte zu gehen. Vergleichbar mit unseren Eltern, die das Fahrrad noch fest in Händen halten, leitete Gott die Israeliten durch die Wüste und sie folgen seinem Weg.

Es gibt etwas, dass diese Beziehung zu Gott sogar attraktiv macht. Wäre es nicht schön, einen Gott zu haben, der uns leitet und führt? Wir müssten keine eigenen, schwierigen Entscheidungen treffen, sondern würden uns ganz darauf verlassen, von Gott zur richtigen Zeit ein Zeichen zu bekommen, dem wir nur folgen müssten.

Die Wanderung der Israeliten durch die Wüste gleicht einem Kind auf dem Fahrrad; das vielleicht nicht mehr mit der direkten Unterstützung durch die Eltern, aber immer noch gestützt durch zwei Stützräder unterwegs ist. Die Grundannahme der Israeliten war, dass sie zwar nicht mehr abhängig durch Pharao in Ägypten waren, aber weiterhin alles von Gott erhielten, was sie benötigten. Und wenn nicht, beklagten sie sich. Nicht nur unser Wochenabschnitt berichtet davon. Sie waren übermäßig auf Gott angewiesen, abhängig von dem, was Gott für sie bereitstellte.

Natürlich kann man dieses Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk als besonders innig bezeichnen, aber es konnte nicht von dauer sein. Die Gabe der Tora wäre völlig überflüssig gewesen, wenn Gott weiterhin in dieser großen Nähe mit seinem Volk gezogen wäre. Es ist ein Zeichen der Liebe und der Stärke, wenn Eltern ihre Kinder zur Freiheit und Selbständigkeit erziehen. Und genau dies empfinde ich auch in Bezug auf Gott.

Wir leben heute in einer Zeit, in der Gott uns hat gehen lassen; wir gelernt, unabhängiger zu leben. Es war ein langer Weg bis hierhin und Gott selbst musste uns Stück für Stück in diese Freiheit entlassen. Wir sind oft gefallen, aber wir haben im Gegenzug viele Ziele selbst erreichen können, auf die wir stolz sein können.

Unsere Beziehung zu Gott ist deshalb nicht unterbrochen und sie wird es auch nie sein. Wir dürfen und müssen unser Leben eigenständig gestalten. Wir machen dabei auch Fehler und es ist sehr gut möglich, dass uns die Sicherheit einer direkten Verbindung zu Gott fehlt. Wir sind inzwischen selbst Erwachsene geworden (ist es nicht das, was jedes Kind sich so oft erträumt?), die eine neue Generation auf ihrem Weg begleitet. Das Geschenk, das einst unsere Vorväter und Mütter erhalten haben, können wir nun weitergeben: Unabhängigkeit, Freiheit und die uneingeschränkte Möglichkeit selbst zu entscheiden, wie wir unser Leben gestalten wollen. Wie alle Eltern vertraut auch Gott uns, angemessenen mit diesen Gaben umzugehen. Und die Botschaft an unsere Kinder wird die selbe sein, die wir selbst einst gelernt haben: Gott mag uns zwar nicht mehr festhalten, aber er ist immer anwesend – freundlich lächelnd, wenn wir alleine vorwärts kommen und mit uns weinend, wenn wir fallen.

Schabbat Schalom