Gestern Morgen verließ ich ziemlich gut gelaunt unsere Wohnung zuhause. Ich hatte gut geschlafen, einen Kaffee und sogar genügend Zeit gehabt, um ihn auch in Ruhe trinken zu können. Es ist ein bekanntes Geheimnis, dass, sobald ich zur Tür heraus komme, der Bus, den ich nehmen muss, gerade vorbei fährt.

Es machte mir nichts aus. Warum sollte ich rennen. Auch mit dem nächsten Bus schaffe ich es noch rechtzeitig zur Uni. Da aber irgendwie Stau war und der Bus nicht vorwärts kam, dachte ich mir: „Komm, die 20 Meter rennen schaffst Du. Warum draußen frieren, wenn es eine reale Chance gibt, den Bus zu erreichen.“

Ich rannte los. Ein oder zwei Sekunden später flog ich durch die Luft und landete ziemlich unsanft auf dem Boden. Mein Torah Kommentar, den ich in der Hand trug, rutschte noch ein paar Meter über den Boden und machte mir damit so recht deutlich, wie viel Schwung ich hatte und wie plötzlich ich gestoppt wurde.

Da saß ich also nun auf dem Boden, Grounded. Mein erster Gedanke war – kein Witz – „Sie (Gott) hat manchmal wirklich einen seltsamen Humor“. Ich sammelte meine Sachen ein und ging meiner Wege. Vielleicht war mein Schicksal für diesen Tag, dass ich nicht zu gut gelaunt sein sollte.

Auf dem Weg in die Uni habe ich mich gefragt, wie wohl Joseph über sein Schicksal gedacht haben mag. Wenn ich mir seinen Lebenslauf anschaue, der mit unserem Wochenabschnitt eine dramatische Wende erhalten hat, dann frage ich mich schon, wie er das so ohne weiteres durchleben konnte? Oder, konnte er das überhaupt? Ich nehme mal nicht an, dass seine Jugend sooooo schön war? Seinen Geburtsort musste seine Familie verlassen, seine Mutter war bei der Geburt seines Bruders gestorben. Seine Brüder waren eifersüchtig auf ihn, sein Vater bevorzugte ihn, was mit Sicherheit auch viel Erwartungshaltungen erzeugte und und und. Und trotzdem hatte er sich ein freudiges, ja kindliches Gemüt bewahrt. Es scheint nicht, als ob er mit sich und seiner Umwelt unzufrieden war. Und dann passierte es. Im wahrsten Sinne der Worte, wird (auch er) auf den Boden der Tatsachen geworfen. Er landete auf dem Boden eines Brunnens.

Was wird Joseph gedacht haben? Hat er sich auch gedacht, dass er das Opfer eines schlechten Scherzes war? Wir wissen es nicht. Nichts. Wo ist der Aufschrei, wo ist das Streiten? Wo ist zumindest das Streiten mit Gott? Hat Jakob ihm den nichts beigebracht? War es nicht Jakob, der mit Gott um sein Schicksal kämpfte? Je mehr ich darüber nachdachte, so wütender wurde ich auf Joseph?

Dieser Joseph soll doch auch ein Vorbild für uns Juden sein? Sollen wir uns einfach so unserem Schicksal hingeben?

Um Josephs Verständnis von Schicksal zu verstehen, und damit eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, scheint es mir wichtig, dass wir zunächst uns die Beziehung von Joseph mit und zu Gott betrachten, und zwar am einfachsten, wenn wir uns einzelne Episoden gezielt anschauen:

Gottes Position wird für uns durch den Erzähler der Josephsgeschichte ersichtlich:

„Gott aber war mit Joseph, und er war ein Mann, dem alles gelang; und er blieb im Hause seines ägyptischen Herrn. Als nun sein Herr sah, dass Gott mit ihm war und daß Gott alles, was er tat, in seiner Hand gelingen ließ, da fand Joseph Gunst in seinen Augen, und er bediente ihn persönlich. Und er bestellte ihn über sein Haus, und alles, was er besaß, gab er in seine Hand. Und es geschah, seitdem er ihn über sein Haus bestellt hatte und über alles, was er besaß, da segnete Gott das Haus des Ägypters um Josephs willen.“ (39,2-5)

Später, als Joseph zu Unrecht von der Frau Potifars beschuldigt wird, das gleiche Bild:

»Gott aber war mit Joseph und wandte sich ihm in Treue zu und gab ihm Gunst in den Augen des Obersten des Gefängnisses«. (39,21

Joseph, der zu keiner Zeit zu Gott betet und auch keine Botschaft oder Visionen von Gott in einer Art Dialog, wie Abraham, Isaak und Jakob vor ihm, empfängt, scheint sich aber selbst als Werkzeug Gottes zu sehen, als jemand, der Ausdrückt, was Gottes Wille ist:

»Sind die Deutungen nicht Gottes Sache? Erzählt mir doch [eure Träume]!« sagt Joseph in Kapitel 40,8 zu dem Mundschenk und dem Bäcker; und in 41,25 »Gott hat dem Pharao mitgeteilt, was er tun will«.

Und auch Pharaos Aussage bestätigt dieses Bild:

»Werden wir einen finden wie diesen, einen Mann, in dem der Geist Gottes ist? … Nachdem dich Gott dies alles hat erkennen lassen, ist keiner so verständig und weise wie du. Du sollst über mein Haus sein … « (4I,38-39).

Und so geschieht es: Joseph wird der zweite Mann in Ägypten, nur dem Pharao untergeordnet, und er wird mit seinen Brüdern versöhnt, als er sie und seinen Vater vor der Hungersnot in Kanaan rettet.

Auch wenn folgendes zunächst wie ein Widerspruch wirkt, so scheint es mir, dass „Gott“ für Joseph in erster Linie „zur Legitimation des eigenen Handelns“ dient. Für mich wird dies bei der Versöhnung mit seinen Brüdern mit am deutlichsten:

Da sagte ]oseph zu seinen Brüdern: Tretet doch zu mir heran! Und sie traten heran. Und er sagte: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun seid nicht bekümmert und werdet nicht zornig auf euch selbst, dass ihr mich hierher verkauft habt! Denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt. (45,4-5)

Der emotionale Sinn dieser Szene ist nicht, daß Gott einen Plan hat – oder nicht hat, — sondern — daß Joseph ein freundliches und verzeihendes Herz hat. Mit diesem „Trick“ kann er seinen Brüdern verzeihen, ohne sie zu erniedrigen.

Gott hat Joseph – entsprechend der Worte Pharaos – zu einem Erfolg gemacht – Und für Joseph? Für Joseph, so scheint es, ist Göttlichkeit aller Art eine Sache des Glaubens und auch des Wissens, aber nicht der persönlichen Begegnung. Der »Geist Gottes«, welcher nach den Worten des Pharao in Joseph ist, ist ein Talent, eine Gabe Gottes, aber keine, die zu ihrem Funktionieren der Kommunikation mit Gott bedarf.

Die Versprechungen und Eingriffe Gottes im Leben von Abraham, Isaak und Jakob betrafen nur sie und ihre Familien. Bei Joseph rettet die göttlich inspirierte Traumdeutung ganz Ägypten. Gott verkündet keine Absichten für Joseph und seine Nachkommen, wie er es seine Vorväter und deren Nachkommen getan hat. Als Joseph den Traum des Pharaos entziffert und so eine künftige Hungersnot vorhersieht, erschließt er keinen göttlichen Plan für Ägypten, den er dann in die Praxis umsetzt. —– Die Hungersnot ist nicht von Gott gesandt; Gott hat einfach Joseph geholfen, sie vorherzusehen. —– Auch die vorsorgliche Planung für die Hungersnot geht auf Joseph und nicht auf Gott zurück. —- Kurz, es ist eine bescheidene, rechtzeitige, indirekte Unterstützung, in der sich für Joseph das göttliche Repertoire im Wesentlichen erschöpft. Sowohl die natürliche als auch die soziale Ordnung sind gegeben und werden stillschweigend als unveränderlich betrachtet; göttliche Hilfe von Seiten seines persönlichen Gottes gestattet es Joseph einfach, in diesen Ordnungen mit Erfolg zu agieren.

Ja, Joseph ergibt sich seinem Schicksal, aber nicht in einem negativen Sinn. Er nutzt sein Schicksal um weiter zu wachsen. Er vertraut darauf, dass das, was ihn als Mensch ausmacht, nicht wertlos ist. Für Joseph ist Gott der Grund seines Handelns, aber nicht das Handeln selbst. Für mich ist das ein versöhnliches Bild. Und auch eines dem ich Nacheifern kann. Auch wenn ich ab und an weiter mit Ihr da oben das eine oder andere ernste Wort zu sprechen haben werde.

Shabbat Shalom