Category: Deutsch

Mein Tisha b’Av

Entsprechend unserer jüdischen Zeitrechnung fällt in die kommende Woche wieder der 9. Av – Tischa b’Av. Es ist der Tag, so lehren es unsere Weisen, an dem sowohl der erste, als auch der zweite Tempel in Jerusalem zerstört wurden und der beispielhaft für all das Leid und das Schrecken steht, welches uns, dem jüdischen Volk, im Laufe der Zeit widerfahren ist.

Wie vielen progressiven Jüdinnen und Juden fällt es mir jedoch schwer, Zugang zu diesem Datum zu finden, steht doch im Zentrum des Gedenkens der zerstörte Tempel mit seinem Opferkult. Als progressive Juden glauben wir schon lange nicht mehr an die Notwendigkeit eines “zentralen Heiligtums” mit seinen Kulten und Tieropfern. Um genauer zu sein, die meisten Bezüge zum Tempel und seinem Kult sind schon lange aus unseren Gottesdiensten und Gebeten verschwunden. Wir beten nicht länger für die Wiedererrichtung des Tempels und die Abschnitte zu den Tieropfern sind ebenfalls schon längst in unseren Gebetbüchern durch die prophetischen Visionen ersetzt worden, die davon sprechen, dass Gott Gebete dem Tieropfer vorzieht. Continue reading

Dewarim: Gerechtigkeit entsteht niemals aus Vorurteilen

Unser Wochenabschnitt für diese Woche heißt „Dewarim“ – „Worte“. Er ist der erste Wochenabschnitt aus dem fünften und letzten Buch unserer Tora. Das ganze Buch enthält eine Serie von Reden, die Moses an die Israeliten richtet, kurz bevor sie in das versprochene Land einziehen werden, und ihre Wüstenwanderung beenden können.

Moses zeichnet nicht nur noch einmal die lange Reise seit dem Auszug aus Ägypten nach, sondern wiederholt die ethischen Werte und Errungenschaften, die das junge Volk in den vergangenen 40 Jahren erhalten haben. Wir lernen von den Schwierigkeiten, die jede Gesellschaft in Angriff nehmen muss, und wie die Leitlinien der Tora helfen können, diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Moses berichtet auch, wie er und auch Gott große Zweifel hatten, ob die Kinder Israels die Erwartungen, die beide an sie hatten, auch erfüllen könnten. Die Erzählungen sind voll von Verzweiflung, Mahnungen und am Ende doch immer wieder auch voll von Hoffnung. Moses und Gott geben die Kinder Israels nicht auf. Continue reading

Bittgebet in Zeiten des Krieges

Bittgebet in Zeiten des Krieges von Rabbiner Yehoram Mazor

Gott, der Du unsere Väter Avraham, Itzchak und Jaakov und unsere Mütter Sara, Rivka, Rachel und Lea gesegnet hast, segne auch die Soldaten der israelischen Verteidigungsarmee und die Vielzahl der Menschen, die sich schützend vor unser Volk stellen. Schütze sie und befreie sie aus aller Bedrängnis und Not, segne all ihr tun, und erhöre ihre und unsere Gebete und erlöse sie.

O, Herr der Welt, sende doch Deinen Segen Deinem Volk, den Müttern und Vätern, die sich sorgen, den Einwohnern Israels, die in ihren Häusern ausharren und den Kindern, die von ihren Spielen fliehen müssen und schaffe Geborgenheit für die Kleinsten unter ihnen, die in Schutzräumen Zuflucht finden mussten. Bitte, erinnere Dich Deines Volkes, in Deiner Gnade. Kümmere Dich um uns, in Deiner Huld. In Deinem Erbarmen komm uns eilend entgegen, denn wir vertrauen auf Dich.

Gott allen Erbarmens, gieße Deine Gnade über Dein Volk aus und erinnere Dich Deines Bundes mit Avraham Avinu, Deinem Herzensfreund. Breite Deinen Frieden aus über den Nachkommen Ischmaels, Sohn der Hagar, und über den Kindern Itzchaks, Sohn der Sara und errichte unter ihnen und uns, was die Propheten schauten: „denn die Saat des Friedens wird aufgehen, der Weinstock, wird seine Frucht hervorbringen, all dies will ich ihnen zum Erbe geben … und ihr werdet ein Segen sein. Fürchtet Euch nicht“ (gemäß Sacharija 8.12-13). Und darauf lasst uns AMEN sagen.

תחנון לימות מלחמה / הרב יהורם מזור

אֱלֹהֵינוּ, שֶׁבֵּרַךְ אֶת אֲבוֹתֵינוּ אַבְרָהָם יִצְחָק וְיַעֲקֹב וְאִמּוֹתֵינוּ שָׂרָה רִבְקָה רָחֵל וְלֵאָה, בָּרֵךְ אֶת חַיָּלֵי צְבָא הַהֲגַנָּה לְיִשְׂרָאֵל וֹּשְאַר מְגִנֵּי עַמֵּנוּ הָעוֹמְדִים עַל מִשְׁמַרְתָּם. שָׁמְרֵם וְהַצִּילֵם מִכָּל צָרָה וְצוּקָה וְתֵּן בְּרָכָה בְּכָל מַעֲשֵׂה יְדֵיהֶם, שְׁמַע תְּפִלָּתָם וּתְפִלָּתֵנוּ וְהוֹשִׁיעֵם.
שְׁלַח נָא בִרְכָתְךָ עַל עַמְּךָ, אֲדוֹן עוֹלָמִים, לְאִמָּהוֹת דּוֹאֲגוֹת וּלְאָבוֹת דּוֹאֲבִים, לָאֶזְרָחִים הַגּוֹלִים מִבָּתֵּיהֶם וְלַיְּלָדִים הַשּׁוֹבְתִים מִמִּשְֹחָקָם. עֲשֵׂה בְּרַחֲמֶיךָ לְמַעַן תִּינוֹקוֹת שֶׁל בֵּית רַבָּן הַיּוֹשְׁבִים בַּמִּקְלָטִים. אָנָּא זָכְרֵנוּ בִּרְצוֹנֶך, פָּקְדֵנוּ בִּישׁוּעָתֶךָ, יְקַדְּמוּנוּ רַחֲמֶיךָ כִּי בְךָ בָּטָחְנוּ.
אָנָּא, אֵל רַחֲמָן, יֶהֱמוּ נָא רַחֲמֶיךָ עָלֵינוּ, זְכֹר אֶת בְּרִיתְךָ עִם אַבְרָהָם אָבִינוּ יְדִידְךָ וּפְרֹשׂ סֻכַּת שְׁלוֹמֶךָ עַל זֶרַע יִשְׁמָעֵאל בֶּן הָגָר וְעַל בְּנֵי יִצְחָק בֶּן שָׂרָה, וִיקֻיַּם בָּהֶם וּבָנוּ הַכָּתוּב: כִּי זֶרַע הַשָּׁלוֹם הַגֶּפֶן תִּתֵּן פִּרְיָהּ וְהָאָרֶץ תִּתֵּן אֶת יְבוּלָהּ וְהַשָּׁמַיִם יִתְּנוּ טַלָּם וְהִנְחַלְתִּי אֶתְכֶם אֶת כָּל אֵלֶּה…וִהְיִיתֶם בְּרָכָה אַל תִּירָאוּ. (עפ”י זכריה ח’) וְנֹאמַר אָמֵן.

PDF-Version: Gebet Krieg in Israel von Yehoram Mazor

Übersetzung Rabbiner Adrian Michael Schell, Berlin/Hameln
Quelle und weitere Studientexte und Gebete:
Israel Movement for Reform & Progressive Judaism (IMPJ)

http://www.reform.org.il/Heb/IMPJ/report.asp?ContentID=2119

 

Parashat Balak: Der beschädigte Gott

Wenn man sich das Ende des Wochenabschnitt für diese Woche anschaut (Balak – Num 22,2-25,9), könnte man meinen, dass man über das Ende des israelitischen Volkes liest. Im Lager der Israeliten herrscht Chaos, das große Projekt, ein neues Volk aus Sklaven zu bilden, scheint zu scheitern. Wir werden Zeugen eines sehr dramatischen Moments während der Wüstenwanderung.
Schauen wir uns doch einmal die Situation genauer an.

Die 40jährige Wüstenwanderung ging ihrem Ende zu. Von der ersten Generation, also denjenigen, die einst Sklaven waren, lebte nur noch eine Hand voll, das Volk war müde von der Wanderung, Mosche war längst kein dynamischer Anführer mehr und die vor 40 Jahren eingeführten Rituale und Gebote scheinen, wie Mosche auch, an Autorität verloren zu haben. Gleichzeitig war das Volk mit den ersten Kriegen im Rahmen der Landnahme konfrontiert. Nach dem Krieg gegen die Emori war eine Auseinandersetzung mit Moav unausweichlich.

Es geschah, was häufig in solchen Situationen passiert: Die Situation geriet außer Kontrolle. Nach dem Segen Bileams über die Israeliten spricht alles dafür, dass die Herrschaft von Gott zerbrochen war. Es war der Prophet eines fremden Gottes, der Israel in direkter Konfrontation mit dem Feind Moav segnete, nicht einer von Gottes Priestern, nicht Mosche oder Elazar. Die Israeliten konnten nicht wissen, dass Gott selbst Bileam die Segensworte in den Mund gelegt hatte. Es scheint mir fast logisch, dass Zimri, einer der Prinzen Israels, sich wie alle anderen Israeliten von Gott abwandte und den Ba’al Peor anbetete. Die Regeln, Gebote und Verbote der Torah hatten nach 40 Jahren in der Wüste ihre Gültigkeit verloren und waren damit irgendwie auch zu einer Qual für die Menschen geworden.

Die direkte Folge war, dass die Ordnung im Lager zusammen brach – die Tora, die Gebote und Verbote sollten das Zusammenleben organisieren, ohne sie, herrschte jetzt nur noch die Willkür. Dass Gott nicht sehr glücklich mit dieser Entwicklung war, können wir uns sehr gut vorstellen. Sein Projekt, all seine Mühen schienen zu scheitern. Mehr noch, er erkannte, dass die Kinder Israels auch nach so vielen Jahren immer noch ohne Vertrauen in ihn waren, sonst hätten sie gewusst, dass er es war, der sie segnen ließ, und kein fremder Gott. Die Schilderung in der Tora beschreibt sehr eindrücklich, wie groß die Enttäuschung Gottes gewesen sein muss: Er schlug die Israeliten mit einer großen Plage und ließ in seiner Zornesglut die Israeliten zu Tausenden an einer Seuche sterben.

Blicken wir noch weiter zurück. Im Wochenabschnitt „Ki Tissa“ sind wir schon einmal Zeugen einer vergleichbaren Situation geworden. Damals weilte Mosche noch auf dem Berg Sinai, während die Israeliten um das Goldene Kalb tanzten. Damals wie heute reagierte Gott zornig und eifersüchtig. Es gab aber einen markanten Unterschied: Damals reagiert Mosche auf die Ereignisse. Er stellt sich vor Gott und Kämpft gegen die Vernichtung des Volkes und vor allem für die Ehre Gottes:

„Warum sollen die Mizraijm sprechen: Zum Unglück hat er sie herausgeführt, sie zu erschlagen auf dem Bergen … Kehre um von deiner Zornesglut und bedenke dich wegen des Unheils über Dein Volk“ (Ex 32.12f)

Und diesmal? Was macht Mosche jetzt? Mein Eindruck ist, dass er aufgegeben hatte. Er versucht nicht mehr Gott zu stoppen. Er wird zu einem passiven Beobachter und sogar Henker. Ich muss zugeben, ich war enttäuscht von seiner Reaktion.

Sollte die Geschichte vom Auszug aus Ägypten tatsächlich so enden? Sollte Israel so kurz vor dem Einzug ins versprochene Land verschwinden? Vernichtet von einer Seuche bzw. komplett assimiliert im Volk der Moabiter?

Wenn Ihr mich fragt, ich glaube, dass diese Katastrophe fast Wirklichkeit geworden wäre, hätte Pinchas nicht eingegriffen. Auf dem Höhepunkt der Entweihung des Bundes mit dem Ewigen, dem Augenblick als Zimri, der Prinz aus Israel, mit Kosbi, der moabitischen Fürstentochter, im Zelt verschwanden (einigen Kommentatoren zufolge handelte es sich hierbei um das Stiftszelt) um einen neuen Bund zwischen Israel und Moav und damit mit dem Ba’al Peor, durch die körperliche Vereinigung zu besiegeln, sehen wir Pinchas die beiden töten. Diese dramatische Handlung bringt die Wende.
Erstaunlicherweise endete unser Wochenabschnitt genau auf diesem dramatischen Höhepunkt – mit einem Blick auf die 24.000 Toten. Wir alle haben gelernt, dass man eine Toralesung nicht mit etwas negativen beenden soll, aber trotzdem finden wir genau hier einen solchen Schluss.

Es ist wie ein Innehalten, Nachdenken über das, was gerade geschehen ist. Eine Atempause für uns und für Gott.

Zu Beginn des Wochenabschnittes für die nächste Woche lesen wir:

„Pinchas, Sohn Elazars … hat meinen Grimm abgewendet von den Kindern Israels, indem er eiferte an meiner Statt unter ihnen, dass ich nicht auftrieb die Kinder Israel in meinem Eifer (Num 25.11)“

Pinchas konnte nicht wie Mosche direkt mit Gott sprechen um ihn in seiner Wut zu stoppen, aber durch sein – zugegebener Maßen – extremes Handeln, konnte er Gott doch erreichen.
Ich will die Tat Pinchas nicht gut heißen, ich frage mich aber selbst, wie wir Situationen, in denen alles außer Kontrolle gerät, wieder in geordnete Bahnen zurück lenken können. Wie stoppen wir jemanden, der wie wild um sich schlägt? Oder auf unsere Gemeindesituation übertragen, wie verhindern wir, dass ein Moment so aus dem Ruder läuft, dass der Name Gottes beschädigt werden könnte?
Pinchas ist für mich nicht vergleichbar mit den Extremisten, die heute im Namen Gottes töten. Er hat genau das Gegenteil aufgezeigt. Töten aus Eifer beschädigt den Namen Gottes und bringt weiteres Töten mit sich. Die Handlung Pinchas war wie eine Ohrfeige für das Volk und für Gott, oder ein lautes auf den Tisch schlagen. Die Reaktion Gottes darauf zeigt, dass es sich dabei nur um eine einmalige, extreme Handlung handeln durfte und dass wir in solch einer Situation den Frieden suchen müssen. Pinchas wird nicht zum neuen Anführer der Israeliten, oder zu einem Krieger: Gewalt ist nicht die Lösung. Durch den Friedensbund den Gott am Anfang der nächsten Parascha mit Pinchas schließt, bindet Gott Pinchas an sich und an das Volk Israel. Der Extremist wird als Priester zum Vermittler zwischen ihnen und Gott.

Für uns bedeutet es, dass wir extreme Situationen und Positionen wahrnehmen müssen, auch wenn sie uns unangenehm sind. Wir müssen ihnen entschieden entgegentreten, aber gleichzeitig müssen wir auch lernen sie einzubinden. Manchmal muss man doch den Bock zum Gärtner machen. Schalom bedeutet eben mehr als nur Frieden.

Shabbat Shalom

Nasso: Um Hilfe zu bitten, ist keine Schande

Diesen Schabbat studieren wir den Wochenabschnitt „Nasso“, was übersetzt soviel wie „nimm auf“ oder „hebe hoch“ heißt. Gemeint ist die Musterung, das Zählen, aller für den Tempeldienst geeigneten Männer (Frauen wohl leider nicht) aus dem Stamme Levi, mit der Moses durch Gott betraut wurde. Die Musterung der Benei Israel steht am Beginn des vierten Buches der Tora und endet mit den letzten beiden Familienverbänden in unserem Wochenabschnitt. Continue reading