Entsprechend unserer jüdischen Zeitrechnung fällt in die kommende Woche wieder der 9. Av – Tischa b’Av. Es ist der Tag, so lehren es unsere Weisen, an dem sowohl der erste, als auch der zweite Tempel in Jerusalem zerstört wurden und der beispielhaft für all das Leid und das Schrecken steht, welches uns, dem jüdischen Volk, im Laufe der Zeit widerfahren ist.

Wie vielen progressiven Jüdinnen und Juden fällt es mir jedoch schwer, Zugang zu diesem Datum zu finden, steht doch im Zentrum des Gedenkens der zerstörte Tempel mit seinem Opferkult. Als progressive Juden glauben wir schon lange nicht mehr an die Notwendigkeit eines “zentralen Heiligtums” mit seinen Kulten und Tieropfern. Um genauer zu sein, die meisten Bezüge zum Tempel und seinem Kult sind schon lange aus unseren Gottesdiensten und Gebeten verschwunden. Wir beten nicht länger für die Wiedererrichtung des Tempels und die Abschnitte zu den Tieropfern sind ebenfalls schon längst in unseren Gebetbüchern durch die prophetischen Visionen ersetzt worden, die davon sprechen, dass Gott Gebete dem Tieropfer vorzieht.

Es gibt meiner Ansicht nach gute Argumente für diese Position:
So finden wir bereits in der Tora selbst wunderbare Beispiele dafür, dass die eigene Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit schon immer eine zentrale Voraussetzung für das Judentum als Religion war und ist. Die Episode um das “Goldene Kalb” (im Wochenabschnitt Ki Tissa) reflektiert sehr schön, dass es zu den Fundamenten des Judentums gehört, ein Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen zu haben, und dass es dafür auch entsprechende Konzepte im Gottesdienst bedarf, welche sich je nach ihren Begleitumständen (z.B. je nach Zeit und Ort) unterscheiden können.

Die Israeliten, welche gerade die Sklaverei in Ägypten hinter sich gelassen hatten, konnten schlicht und einfach nicht das Konzept eines unberührbaren, unsichtbaren und abstrakten Gottes verstehen. Und auch wenn das “Goldene Kalb” nicht das war, was Gott als Antwort auf die Bedürfnisse der Israeliten im Sinn hatte, so fand Gott doch, mit den zwei Cherubim im Stiftszelt, der Wolke über dem Lager und der Feuersäule bei der Wanderung, die richtige “Sprache”, um dem Volk nah sein zu können.

(c) Rabbiner Schell

(c) Rabbiner Schell

Jahrhunderte später war der Tempel mit seinem Kult ein weiterer und wichtiger Schritt in diesem kontinuierlichen Prozess der Anpassung und Fortschrittes. In dieser Zeit war der Tempel ausschlaggebend in der Schaffung des jüdischen Königreiches und bei der Zentralisierung des Kultes.

Mit der Zerstörung des ersten Tempels ging jedoch eine wesentliche Änderung in der zuvor befolgten Praxis einher. Stück für Stück ersetzt festgelegte Gebete die täglichen Opfergaben, und ebnete so den Boden für die „große rabbinische Revolution“, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 eintrat: An die Stelle der Tieropfer und des Tempelkultes traten Wortgottesdienste und die direkten Gebete von einzelnen Gläubigen. Durch die teilweise Übernahme von Tempelritualen in die Synagoge (wie zum Beispiel die Verwendung des Schofar, Lulav und Etrog) und die ritualisierten Erinnerung an den ehemalige Tempelgottesdienst innerhalb der Liturgie (Beispielsweise das Rezitieren der Reihenfolge der Opfer), schafften es die Rabbinen, die Menschen über Jahrhunderte hinweg über den Verlust des Tempels hinwegzutrösten. Trotzdem war dieser Schritt revolutionär, denn mit ihm wurde nicht nur die Ablösung der Tieropfer vollzogen, sondern auch, dass nun jeder unmittelbar vor Gott stand und ohne Mittler sich an Gott wenden konnte, aber auch vor Gott verantworten musste. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk wurde meiner Meinung nach inniger und intimer.

Und so kam es, dass schon im dritten Jahrhundert Rabbi Shmuel ben Rabbi Isaak lehrte, dass eine Synagoge, in die Menschen zum Beten zusammen kommen, von nun an als „kleine Tempel” betrachtet werden sollten (babylonischen Talmud, Megillah 29a).

Mit der Entwicklung des Reformjudentums in Deutschland durch Geiger, Jacobson und andere, verlor der Tempel schließlich, auch im übertragenen Sinne, seine rituelle Funktion. Das Konzept eines Tempels wurde als altmodisch empfunden, und es verhinderte, dass man sich aus einer intellektuellen, aufgeklärten Sicht, basierend auf Vernunft und Wissenschaft, dem Judentum nähern konnte. Juden hatten über Jahrhunderte hinweg bewiesen, dass der Bund mit Gott keines Tempels bedurfte und dass Juden jederzeit und an jedem Ort ihr Judentum praktizieren konnten und können.

Ich kann diesem Konzept viel abgewinnen. Um ganz genau zu sein wäre für mich eine Rückbesinnung zu einem der vorherigen Stadien ein wahrer Rückschritt, vor allem in unserer Beziehung zu Gott. Anstelle Gott im Laufe der Zeit näher zu kommen, würden wir uns wieder von ihm entfernen. Ich kann daher keinen Sinn in dem Wunsch nach einer Wiederherstellung des Tempels erkennen, mehr noch, ich stehe dieser Idee sogar diametral entgegen.

„Aber Herr Rabbiner, vielleicht können Sie mir folgende Frage beantworten:“, wurde ich neulich anlässlich einer Diskussion über den Tempel gefragt, „Wenn Sie so gegen den Tempel sind, warum unterstützen Sie dann die „Women of the Wall“ und deren Anliegen, dass es auch egalitäre Gottesdienste an der ehemaligen Tempelmauer geben soll? Warum sollen progressive Juden, bzw. Juden generell, überhaupt an der Klagemauer beten?“

Ich halte diesen Einwand für nicht nur berechtigt, sondern sogar für sehr wichtig, um meine Position zu verstehen. Tatsächlich mag es so scheinen, dass meine Position in Hinblick auf den Tempel ambivalent oder gar schizophren erscheinen. Jedoch nur auf den ersten Blick meine ich, da meine Haltung eine sehr spezifisch jüdische Position widergibt.

Von einem religiösen Standpunkt aus gesehen, halte ich an meiner Position fest, die ich gerade dargelegt habe. Ich würde sogar sagen, dass wir Juden die Klagemauer nicht brauchen, um Gott zu begegnen. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Ewigen an jedem Ort dieser Welt gleichermaßen treffen können.

Aber Judentum ist nicht nur eine Religion. Es ist soviel mehr als das. Es ist auch ein Bund zwischen Individuen – wir Juden sind auch ein Volk – „Am Israel“ – und eine große Familie – „Benei Israel“. Wir teilen alle eine gemeinsame Geschichte und haben gemeinsame Werte. Wir alle sind durch eine unsichtbare und unverbrüchliche Kette mit allen Generationen verbunden, vom Sinai bis in die weite Zukunft – „Le Dor va Dor“.

Unsere Weisen, die einst das Judentum so abgewandelt hatten, dass es ohne den Tempel und seinen Kult auskommen konnte, haben wahrlich eine Meisterleistung vollbracht. Sie haben zwar auf der einen Seite die „Religion“ vom Ort des Kultes gelöst, jedoch auf der anderen Seite weiterhin die Menschen miteinander durch diesen Ort verbunden gehalten. Obwohl sie im religiösen Sinne das Judentum mit den Reformen auf den Kopf gestellt hatten, hielten sie an Jerusalem im Zentrum des Judentums fest. Nicht als einen Ort, an dem Gott ausschließlich gedient werden konnte, sondern als ein Zentrum der Hoffnung und reales Zentrum unseres Volkes; durch alle Zeiten hindurch. Die Westmauer symbolisiert genau diese Hoffnung und diese Verbundenheit aller Juden. Und aus diesem Grund gehört sie auch allen Jüdinnen und Juden, egal wo und wer wir sind.

Das Buch Sch’mot endet mit dem eindrucksvollen Bild, in dem Gott das neu errichtete Stiftszelt in der Mitte der Kinder Israels in Besitz nimmt:

Denn des Tages war eine Wolke des Ewigen auf der Wohnung, und des Nachts leuchtete ein Feuer darin vor den Augen des ganzen Hauses Jisraels auf allen ihren Zügen. ( Ex. 40.37)

Das Mischkan war das Zentrum des Lagers in der Wüste, sichtbar für das ganze Volk. Es war eine Festung für die Menschen, die um es herum lagerten, es gab ihnen Hoffnung und Sicherheit, aber noch viel mehr ein Gefühl der Gemeinschaft, nicht alleine, nicht ohne Gott zu sein.

Heute haben wir nicht mehr das Stiftszelt und auch nicht mehr den Tempel, aber wir haben immer noch den Ort im Zentrum, der die Verbundenheit aller Jüdinnen und Juden untereinander verdeutlicht und bis heute dafür steht, dass wir nicht ohne Gott sind.

Wie bereits geschrieben, die traditionelle Deutung des 9. Av’s fällt mir schwer. Ich glaube nicht, dass wir um den Tempel trauern sollten. Aber mit dem Wissen, dass dieser Ort uns Jüdinnen und Juden aus aller Welt verbindet, will ich nicht, dass wir den Tag als Gedenktag ersatzlos aus unseren Kalendern streichen. Wir sollten ihn jedoch Menschen statt Steinen widmen. Wir sollten ihn all denen widmen, die wir in all den Katastrophen im Laufe unserer Geschichte verloren haben, an die dieser Tag auch erinnert. Den Jüdinnen und Juden, die bei der Eroberung Jerusalems sterben mussten, denen, die während der Pogrome in den vergangenen Jahrhunderten, der Shoa, bei den Anschlägen auf jüdische Einrichtungen auf der ganzen Welt und denen, die bei der Verteidigung des modernen Israels und Jerusalems ermordet wurden. Steine können keine Menschen ersetzen, dies vermag nur unsere Erinnerung an sie.

Und bei all der berechtigten Trauer sollten wir nicht vergessen, auch unsere Dankbarkeit darüber auszudrücken, dass wir trotz allem, uns als Gemeinschaft nicht verloren haben, und dass wir auch weiterhin, wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden sind – damals – heute – in Zukunft. Genau das ist für mich mein Tisha v’Av.