Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen:

Einst gab es einen Rabbiner, der war sehr reich und sehr gelehrt. Man sagt, er kannte den ganzen Talmud auswendig. Jeden Tag kamen zu ihm Menschen von Nah und Fern und sie baten ihn um Ratschlag für allerlei Probleme. Seine Antworten waren stets sehr klug und sein Ruf wuchs von Tag zu Tag mehr. Ja, er war der bedeutendste Rabbiner seiner Generation.

Euch ist sicher bekannt, dass es üblich ist, bevor der heilige Jom Kippur Tag anbricht, man sich, z.B. in der Familie, zusammenfindet und gemeinsam noch einmal etwas isst, sodass man die 25 Fastenstunden gut durchhalten kann. In vielen Familien ist es ein festliches Essen, zu dem alle Familienmitglieder und häufig auch Freunde eingeladen sind.

So war es auch im Hause des Rabbis. Die ganze Familie hatte sich versammelt und zudem hatte der Rabbiner noch wichtige Vertreter der Gemeinde eingeladen. Den Vorsitzenden der Gemeinde, den Bürgermeister der Stadt und den Reb. Moische, dem der Lebensmittelladen gehörte und der mit seinen Spenden die Gemeinde unterstütze. Alle waren sie festlich in Weiß gekleidet und auf dem Tisch stand das beste Essen.

Gerade wollte der Rabbiner den Segensspruch über das Brot sprechen, da klopfte es heftig an der Haustüre. Der Rabbi war erstaunt und er schaute sich am Tisch um. Alle waren da. Wer konnte da klopfen. Hatte er jemanden vergessen? Er bat seine Tochter die Tür zu öffnen und zu schauen, wer da so heftig geklopft hatte. Vor der Tür stand ein alter Mann, seine Kleidung war dreckig und zerrissen. Nein, dieser Mann war überhaupt nicht festlich gekleidet und passte so gar nicht zu der Tischgesellschaft des Rabbiners.

Die Tochter sagte ihrem Vater, dass der Mann an der Tür um Einlass gebeten habe. Der Rabbi sagte zu seiner Tochter: „Gib’ ihm etwas Brot und sage ihm, dass ich nicht zu sprechen sei“. Er möge doch Übermorgen wiederkommen, fügt er noch schnell seinen Worten hinzu, während seine Tochter wieder zur Türe ging. Sie gab dem Mann etwas Brot, richtete ihm die Worte des Rabbis aus und schloss die Türe.

Doch kaum saß die Tochter wieder am Tisch, klopft es erneut. Wieder wurde der Rabbiner beim Sprechen der Bracha unterbrochen. Um die Sache abzukürzen ging er diesmal selbst an die Türe. Vor der Türe stand wieder der alte alte Mann. Er sah noch viel älter, schwächer und erbärmlicher aus als vor wenigen Minuten. Er bat erneut darum, hereinkommen zu dürfen. Der Rabbi sah ihn von oben bis unten an und sprach zu ihm „Guter Mann, wir sind in Eile. Wir müssen gleich in die Synagoge und wollen nur noch kurz bevor es dunkel wird, etwas essen. Weisst Du nicht, dass heute Abend der heilige Joim Kippur beginnt und wir nach Einbruch der Dunkelheit nichts mehr essen dürfen. Bitte sei so gütig und komme übermorgen wieder. Hier hast Du noch ein wenig mehr Brot, so dass auch Du gestärkt das Fasten beginnen kannst.“

Der Rabbi wollte gerade die Türe ins Schloss werfen, da schob der alte Mann seinen Stock in den Spalt. „Bitte Rabbi, führe mich doch kurz zu deiner Toilette. Es ist doch nur ein Augenblick“. Der Rabbi warf einen Blick auf seine Uhr und dachte sich, dass es wahrscheinlich schneller geht, den Mann kurz zur Toilette zu führen, als mit ihm noch weiter zu diskutieren. Und so führte er ihn, voll von innerer Ungeduld, durch den Flur seines Hauses zur Toilette im Hinterhof seines Hauses.

Es vergingen die Minuten und der Rabbi wurde ungeduldig. Immer wieder schaute er auf seine Uhr. Aber es geschah nichts. Der alte Mann kam nicht wieder aus der Toilette. Der Rabbiner klopfte an die Tür der Toilette, zu Beginn noch sanft und vorsichtig, aber zuletzt immer heftiger. Er rief durch die Türe, dass der alte Mann sich doch bitte beeilen möge. Aber es tat sich nichts. Keine Reaktion. Nichts deutete darauf hin, dass der Mann bald wieder herauskommen würde.

Es wurde immer dunkler. Längst war es so spät, dass für das Essen keine Zeit mehr sein würde. Dem Rabbiner riß der Geduldsfaden und er schrie durch die Türe: „Alter Mann, wir kommen noch zu spät zur Synagoge. Wie soll ich >>Kol Nidrei<< beten? Etwa hier mit Dir auf dem Klo?“

Wüste Sinai

Wüste Sinai

In diesem Moment flog die Türe auf. „Warum nicht? – Wenn, der Heilige, gepriesen sei er, den Israeliten, einem Volk von ehemaligen Sklaven, in der Wüste, einem der unwirklichsten Orte der Welt, seine Torah geben konnte; und das Stiftszelt, das Symbol göttlicher Präsenz auf Erden, immer in der Mitte der Israeliten war, um zu verdeutlichen, dass Gott immer mit uns ist, dann müsste es Dir doch möglich sein, mit mir, einem einfachem Mann hier zu beten?“

[Die Idee zu der Geschichte basiert auf einer meisterhaften Erzählung im Talmud Bavli, Kiddushin 81a-b, in der der Tanna Pelimo auf den Satan trifft. In der Erzählung erscheint der Satan Pelimo als armer Bettler, der mit den Vorurteilen des Tanna spielt und ihn so weit provoziert, dass dieser ihn erschlägt. Pelimo flüchtet auf eine öffentliche Latrine und versteckt sich dort, bis sich ihm der Satan offenbart. Jetzt, nachdem er selbst gesellschaftlich ganz unten gelandet ist, erkennt Pelimo, dass er ein Opfer seiner eigenen Vorurteile geworden ist und, dass die Ausgrenzung von anderen Menschen die größte Sünde von allen ist. – Quelle: Pelimo and Satan: A Divine Lesson in the Public Latrine, Admiel Kosman, CCAR Journal Winter 2009]