Es gibt eine alte Weisheit, die ursprünglich von den Indianern Nordamerikas stammen soll: „Wir erben nicht die Welt von unseren Vorfahren, wir leihen sie nur von unseren Kindern“. Diese Weisheit halte ich für bedeutend. Ich verstehe sie dahingehend, dass wir, dass unsere Generationen, derzeit die Hüter dieser Welt sind, wir aber auch Teile einer Kette sind. Wir sind verbunden mit den Generationen vor uns und mit den Generationen nach uns.

Oft wird die Weisheit in Verbindung mit Umweltschutz gebracht. Sie soll uns ermahnen, mit den Ressourcen dieser Welt verantwortungsbewusst umzugehen, so dass auch zukünftige Generationen noch gut auf dieser Erde leben können. Aber sie Idee geht darüber hinaus. Alleine die Finanzkrise ist ein gutes Beispiel dafür. Die Schulden, die wir heute machen, müssen die nächsten Generationen als Hypothek weitertragen. Gesetze und ethische Werte, die wir heute gestalten, bilden den Handlungsspielraum unserer Kinder.

Wenn ich mir diesen Weisheitsspruch so ansehe, stelle ich fest, dass sich meine Haltung in den letzten Jahren gewandelt hat. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, ich stehe auf der Seite der Kinder, von denen sich die anderen die Welt ausborgen. Mir ging es um das, was einmal mir gehören sollte. Heute, gerade nachdem ich angefangen habe, mit Jugendlichen zu arbeiten, geht es mir umgekehrt. Ich frage mich, was ich weitergeben werde.

Entsprechend unserer Tradition lesen wir morgen Vormittag im Schacharit-Gottesdienst den Abschnitt aus der Parascha “Nitzawim”, der ganz gut eine jüdische Variante der indianischen Weisheit sein könnte. Gott bestätigt den Bund mit dem Volk Israel, kurz bevor sie das gelobte Land betreten. Der Text in der Tora betont, dass alle Israeliten in diesem besonderen Augenblick anwesend waren:

DTN: 29.9 Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem Gott, die Häupter eurer Stämme, eure Ältesten, eure Amtleute, jeder Mann in Israel, 10 eure Kinder, eure Frauen, dein Fremdling, der in deinem Lager ist, dein Holzhauer und dein Wasserschöpfer,

 

Und es folgt eine weitere bedeutende Information:

13 Denn ich schließe diesen Bund und diesen Eid nicht mit euch allein, 14 sondern mit euch, die ihr heute hier seid und mit uns steht vor dem Ewigen, unserm Gott, wie auch mit denen, die heute nicht mit uns sind.

Dieser Bund reicht von Abraham bis zu den Kindern Israels in der Wüste. Und er reicht von den Kindern Israels bis zu uns und allen Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt. Und er wird weiterreichen. Bis zu unseren Kindern und Enkeln, bis zu den Enkeln unserer Enkel und immer weiter. Wer weiß, vielleicht wird es einmal Juden auf dem Mars geben? Selbst dort werden sie weiter Teil des Bundes sein. Alle Generationen sind Teil dieser Kette.

Die Aussage in der Tora ist sehr wichtig. Gott hat die Tora nicht nur einer Person, nicht nur einer Generation, übergeben, sondern allen Jüdinnen und Juden. Egal ob sie damals gelebt haben, oder ob sie heute leben, oder in der Zukunft.

Für mich enthält dieser Text zwei wichtige Botschaften, die sehr typisch für das sind, was Judentum für mich ausmacht. Zum einen geht es um Vertrauen: Natürlich waren nicht alle Generationen damals am Sinai physisch anwesend, als Gott den Bund mit dem Volk Israel bestätigte. Aber im Geiste schon. Gott sprach unseren Vorfahren das unendliche Vertrauen aus, dass sie und ihre Kinder und Kindeskinder den Bund bewahren und weiterreichen würden. In der Tora folgt zwar direkt auf den Bundesschluss eine Mahnung an das Volk, was alles passieren wird, wenn der Bund nicht gehalten wird, aber die Tatsache, dass Gott ihnen die Tora trotz des Wissens, dass es nicht immer einfach wird, übergeben hat, beweist, dass Gott ihnen vertrauen konnte. Gott vertraute ihnen, dass sie verantwortungsbewusst die Tora von Generation zu Generation weitergeben würden.

„Verantwortungsbewusst“ ist das zweite Stichwort, das mir in den Sinn gekommen ist. Unsere Vorfahren haben in großer Verantwortung die Tora und den Bund mit Gott angenommen. In dem Vertrauen, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben. Sie hatten sich für einen Weg entschieden, der auch noch für ihre Kinder sicher sein sollte. Ganz so wie Eltern auch heute noch wichtige Entscheidungen treffen, immer in der Hoffnung, dass diese auch zum Nutzen ihrer Kinder sein werden.

Die Gabe der Tora war nicht etwas Statisches, etwas Einmaliges, das damals am Sinai sein Ende gefunden hatte. So wie der Bund von Generation zu Generation weiter reicht, so ist die Tora selbst etwas sehr Lebendiges in unserer Mitte. Die Tora wurde unseren Vorfahren mit dem Hinweis übergeben, dass sie zu uns Menschen gehört und damit von uns interpretiert werden muss. In der Tora heißt es:

Dtn. 30.12. Lo BaShamaim Hi. Nicht im Himmel ist sie (die Tora).

Оно не на небе

יב  לֹא בַשָּׁמַיִם, הִוא:  לֵאמֹר, מִי יַעֲלֶה-לָּנוּ הַשָּׁמַיְמָה וְיִקָּחֶהָ לָּנוּ, וְיַשְׁמִעֵנוּ אֹתָהּ, וְנַעֲשֶׂנָּה.

Und wenige Zeilen weiter heißt es:

Dtn 30.19 Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.

Und dies gilt bis heute. Auch heute sind wir noch die Hüter der Tora. Wir sind diejenigen, die den Bund von den Generationen vor uns übernommen haben und ihn hoffentlich an die nächste Generation weitergeben dürfen. Wir genießen dasselbe Vertrauen von Gott, das er damals unseren Vorfahren gewährt hat. Gott vertraut uns, dass wir verantwortungsbewusst mit der Tora und seinem Bund umgehen. Und noch etwas gilt weiterhin: Wir dürfen keine Angst im Umgang mit der Tora haben.

Wir leben jetzt und hier. Wir müssen Dinge ausprobieren. Wir müssen schauen, wie wir Dinge verändern können, die sich als nicht gut erwiesen haben. Manchmal muss man leider Schulden machen, um etwas für die Zukunft aufbauen zu können. Manchmal muss man neue Techniken ausprobieren, um zu sehen, welche Fortschritte wir damit machen können. Wichtig ist dabei nur, dass wir unsere Grenzen erkennen, dass wir Fehler sehen, wenn wir sie machen und ,dass wir nicht weiter einen falschen Weg gehen, wenn wir schon längst wissen, dass er uns in die Irre führt.

Die Tora ist nicht im Himmel. Sie ist Teil unserer Welt und daher gilt  auch für die Tora, dass wir aktiv dafür sorgen müssen, dass sie weiterhin existieren kann. Wie ein alter Baum, den jede Generation umsorgen muss, dass er kräftig bleibt. Wie er, so soll auch die Tora Schutz und Halt geben, aber auch mit dem Wind gehen dürfen und neue Triebe hervorbringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tora genau so lebendig ist, wie alles andere auf dieser Welt, und dass jede Generation sie weiterentwickeln muss. Wir alle haben die Möglichkeit das mitzubestimmen, was wir an die nächste Generation weitergeben wollen.

Heute, an Jom Kippur, geht es darum, das wir erneut über unsere Fehler, Dummheiten und Sünden nachdenken sollen. Wir sollen die Grenzen unseres Handelns erkennen. Wir sollen überprüfen, ob wir noch auf dem Weg sind, der uns in die richtige Richtung bringt. Dabei geht es zwar auf den ersten Blick um die Vergangenheit, aber es geht eigentlich um noch viel viel mehr: Es geht um unsere Zukunft. Aus diesem Tag soll uns die Kraft und Hilfe erwachsen, die Zukunft weiter gestalten zu können.

Die Entscheidungen die wir machen, haben immer auch eine Auswirkung auf die Generationen, die noch nicht geboren wurden. Unser Handeln wird beeinflussen, welche jüdische Welt die nächsten Generationen vorfinden kann. Wenn wir uns immer vergegenwärtigen, dass unser Judentum etwas ist, das wir gleichzeitig von unseren Vorfahren geerbt und nur von unseren Kindern geliehen haben, werden wir alle dazu beitragen, dass das Judentum etwas sehr Lebendiges, Liebenswertes  und Lebenswertes bleibt.

Gmar Chatima Tova!