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Presseschau zur Ordination

Foto: Tobias Barniske

Foto: Tobias Barniske

Ich danke schon mal an dieser Stelle allen Journalisten, Medien und Freunden, die über die Ordination berichten.

Ein schönes Portrait über meine Arbeit in Hameln ist hier zu finden:

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ausderjuedischenwelt/2072438/

“Neue Rabbiner und Kantoren braucht das Land – Ordinationsfeier in Erfurt”

Der MDR hat ausführlich berichtet. Hier ist die Startseite zur Berichterstattung: http://www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/rabbinerordination100.html

Eine Zusammenfassung der Ereignisse ist hier als Video abrufbar: http://www.mdr.de/tv/programm/video117002.html

Die Jüdische Allgemeine hat hier über die Ordnination berichtet:

Gebet und Gesang

Und hier ist der Bericht von Heide Sobotka in der JA ist hier zu finden: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/15695

Und hier die Tickermeldung der Bild-Zeitung: Bild Berlin

Hier die Meldung in den PNN: http://www.pnn.de/potsdam/740456/

Auf T-Online / Yahoo / Die Welt (dapd) ist folgender Bericht über die Ordination zu finden: http://www.t-online.de/regionales/id_62918606/rabbiner-und-kantoren-des-abraham-geiger-kollegs-in-aemter-berufen.html

und Deutschland today berichtet hier: http://www.dtoday.de/regionen/lokal-nachrichten_artikel,-Besonderes-Ereignis-juedischen-Lebens-weit-ueber-Thueringens-Grenzen-_arid,242805.html

Die Hamelner DEWEZET hat ebenfalls einen kleinen Bericht verfasst: http://www.dewezet.de/portal/startseite_Vom-Buchhaendler-zum-Rabbiner-_arid,518318.html

Und hier der Bericht der TLZ: http://www.tlz.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Erfurt-Renaissance-juedischen-Lebens-in-Deutschland-227625197

Und hier die Pressemitteilung des AGKs zur Ordnination:

Seien Sie unser Gast bei der Ordination in Erfurt:

Das Ereignis in den Medien:

“Neue Rabbiner und Kantoren braucht das Land – Ordinationsfeier in Erfurt”

Ab 14.00 Uhr: als Live-Übertragung
des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR Thüringen) im Internet:

http://www.mdr.de/tv/programm/sendung243888.html

Eine Zusammenfassung der Ereignisse mit dem gleichen Titel sendet der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in der Sondersendung von 22.05 – 22.25 Uhr im regionalen Fernsehprogramm und danach unter gleicher Web-Adresse im Internet.

Am Mittwoch, den 10. April 2013, werden mit Rabbiner Alexander Nachama und Rabbiner Adrian M. Schell zum fünften Mal Absolventen des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam ordiniert. Daneben werden mit Isidoro Abramowicz und Nikola David auch zwei Kantoren in ihr Amt eingeführt.

Die Ordination findet in der Neuen Synagoge der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen in Erfurt in Anwesenheit zahlreicher Rabbiner und Gemeinderepräsentanten aus dem In- und Ausland statt.

Unter den Ehrengästen wird die Ministerpräsidentin des Freistaats Thüringen, Christine Lieberknecht, sein, die auch die Festansprache hält.

Weitere Festgäste sind:
Aus dem Zentralrat der Juden: Dr. Josef Schuster (Vizepräsident), Mark Dainow und Heinz-Joachim Aris (Präsidium), Rabbiner Dr. Henry Brandt (Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland); aus den Kirchen: Landesbischöfin Ilse Junkermann (Evangelische Kirche Mitteldeutschland), Dr. Christian Stawenow (Regionalbischof Erfurt-Eisenach) und Gregor Arndt (Dompropst Bistum Erfurt); sowie Vertreter des Deutschen Bundestages und der Landtage Thüringen und Brandenburg.

Absolventen des Abraham Geiger Kollegs 2013

Rabbiner:

Alexander Nachama
Ordinationsspruch:
“Sei beherzt und tapfer, zage nicht und sei nicht ängstlich,
denn der Ewige, dein Gott, ist mit dir, überall wohin du gehst.”
(Josua 1,9)

Alexander Nachama, geboren 1983 in Frankfurt am Main, erhielt nach einer Ausbildung zum Kantor 2008 seinen Bachelor in Judaistik (Freie Universität Berlin) und 2013 seinen Master (Universität Potsdam). In seiner Masterarbeit beschäftigte er sich mit dem Anzünden der Schabbatkerzen (Hadlakat Nerot).

Seit November 2012 arbeitet Nachama als Gemeinderabbiner für die Jüdische Gemeinde zu Dresden.

Adrian Michael Schell

Ordinationsspruch:
“Lass deine Hand sein ob dem Manne deiner Rechten,
dem Menschensohn, den du dir stark gemacht”
(Psalm 80,18).

Adrian Michael Schell, geb. 1973 in Frankfurt am Main, ist hauptamtlicher Jugendleiter der Union progressiver Juden in Deutschland. Der gelernte Buchhändler hat vor seinem Studium der Religionswissenschaft und Jüdischen Studien in Potsdam zunächst im Buchhandel und dann beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München gearbeitet. In seiner rabbinischen Abschlussarbeit behandelt er die Adoption von Kindern und die dazugehörigen halachischen (religionsrechtlichen) Diskussionen.

Er betreut seit Frühjahr 2012 zusätzlich die Jüdische Gemeinde Hameln, deren Rabbiner er nach seiner Ordination sein wird.

Kantoren:

Isidoro Abramowicz

Investiturspruch:
“Gott, höre mein Gebet, lausche den Sprüchen meines Mundes.”
(Psalm 54,4)

Isidoro Abramowicz wurde 1972 in Buenos Aires geboren. Er studierte Musik an der Universidad Nacional de Buenos Aires in Argentinien, bevor er 2009 seine kantoralen Studien am Abraham Geiger Kolleg und im Masterstudiengang der Jüdischen Studien an der Universität Potsdam aufnahm. Im Rahmen seiner Studien absolvierte er zwei Studienjahre in Israel und studierte am Hebrew Union College in Jerusalem und am Tel Aviv Cantorial Institute, das von Naftali Hershtik geleitet wird. In seiner Masterarbeit zum Thema “Das Frankfurter Kaddisch – Ein liturgischer Kalender” hat sich Abramowicz mit den Kaddischmelodien in der Tradition von Frankfurt am Main beschäftigt – einem Schatz von über fünfzig Melodien für die Liturgie eines ganzen Jahreszyklus. Bis zu diesem Zeitpunkt existierten noch keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema.

Isidoro Abramowicz ist verheiratet und hat eine Tochter.

Nikola David

Investiturspruch:
“Singet dem Ewigen ein neues Lied, denn Wunderbares hat Er vollbracht, Seine Rechte half Ihm, der Arm Seiner Heiligkeit.”
(Psalm 98,1)

Nikola David wurde 1969 in Bela Crkva, Serbien, geboren. An der Musikakademie Novi Sad studierte er Gesang und Musikpädagogik. 1998 kam er mit einem Stipendium der Anni-Eisler-Lehmann-Stiftung nach Deutschland und absolvierte dann am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz sein künstlerisches Aufbaustudium. Nikola David nahm 2008 sein Kantorenstudium am Abraham Geiger Kolleg auf. In seiner Bachelorarbeit zum Thema “Die Hymne Adon Olam” hat sich David mit der Bedeutung dieses traditionellen Schlussliedes in der jüdischen Gottesdienstliturgie und mit verschiedenen Vertonungen auseinander gesetzt.

Nikola David befindet sich zur Zeit in Verhandlungen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Eine Pressemappe zur Ordination und Investitur finden Sie auch hier.

Unsere Verantwortung – Drascha zu Jom Kippur

Es gibt eine alte Weisheit, die ursprünglich von den Indianern Nordamerikas stammen soll: „Wir erben nicht die Welt von unseren Vorfahren, wir leihen sie nur von unseren Kindern“. Diese Weisheit halte ich für bedeutend. Ich verstehe sie dahingehend, dass wir, dass unsere Generationen, derzeit die Hüter dieser Welt sind, wir aber auch Teile einer Kette sind. Wir sind verbunden mit den Generationen vor uns und mit den Generationen nach uns.

Oft wird die Weisheit in Verbindung mit Umweltschutz gebracht. Sie soll uns ermahnen, mit den Ressourcen dieser Welt verantwortungsbewusst umzugehen, so dass auch zukünftige Generationen noch gut auf dieser Erde leben können. Aber sie Idee geht darüber hinaus. Alleine die Finanzkrise ist ein gutes Beispiel dafür. Die Schulden, die wir heute machen, müssen die nächsten Generationen als Hypothek weitertragen. Gesetze und ethische Werte, die wir heute gestalten, bilden den Handlungsspielraum unserer Kinder.

Wenn ich mir diesen Weisheitsspruch so ansehe, stelle ich fest, dass sich meine Haltung in den letzten Jahren gewandelt hat. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, ich stehe auf der Seite der Kinder, von denen sich die anderen die Welt ausborgen. Mir ging es um das, was einmal mir gehören sollte. Heute, gerade nachdem ich angefangen habe, mit Jugendlichen zu arbeiten, geht es mir umgekehrt. Ich frage mich, was ich weitergeben werde.

Entsprechend unserer Tradition lesen wir morgen Vormittag im Schacharit-Gottesdienst den Abschnitt aus der Parascha “Nitzawim”, der ganz gut eine jüdische Variante der indianischen Weisheit sein könnte. Gott bestätigt den Bund mit dem Volk Israel, kurz bevor sie das gelobte Land betreten. Der Text in der Tora betont, dass alle Israeliten in diesem besonderen Augenblick anwesend waren:

DTN: 29.9 Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem Gott, die Häupter eurer Stämme, eure Ältesten, eure Amtleute, jeder Mann in Israel, 10 eure Kinder, eure Frauen, dein Fremdling, der in deinem Lager ist, dein Holzhauer und dein Wasserschöpfer,

 

Und es folgt eine weitere bedeutende Information:

13 Denn ich schließe diesen Bund und diesen Eid nicht mit euch allein, 14 sondern mit euch, die ihr heute hier seid und mit uns steht vor dem Ewigen, unserm Gott, wie auch mit denen, die heute nicht mit uns sind.

Dieser Bund reicht von Abraham bis zu den Kindern Israels in der Wüste. Und er reicht von den Kindern Israels bis zu uns und allen Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt. Und er wird weiterreichen. Bis zu unseren Kindern und Enkeln, bis zu den Enkeln unserer Enkel und immer weiter. Wer weiß, vielleicht wird es einmal Juden auf dem Mars geben? Selbst dort werden sie weiter Teil des Bundes sein. Alle Generationen sind Teil dieser Kette.

Die Aussage in der Tora ist sehr wichtig. Gott hat die Tora nicht nur einer Person, nicht nur einer Generation, übergeben, sondern allen Jüdinnen und Juden. Egal ob sie damals gelebt haben, oder ob sie heute leben, oder in der Zukunft.

Für mich enthält dieser Text zwei wichtige Botschaften, die sehr typisch für das sind, was Judentum für mich ausmacht. Zum einen geht es um Vertrauen: Natürlich waren nicht alle Generationen damals am Sinai physisch anwesend, als Gott den Bund mit dem Volk Israel bestätigte. Aber im Geiste schon. Gott sprach unseren Vorfahren das unendliche Vertrauen aus, dass sie und ihre Kinder und Kindeskinder den Bund bewahren und weiterreichen würden. In der Tora folgt zwar direkt auf den Bundesschluss eine Mahnung an das Volk, was alles passieren wird, wenn der Bund nicht gehalten wird, aber die Tatsache, dass Gott ihnen die Tora trotz des Wissens, dass es nicht immer einfach wird, übergeben hat, beweist, dass Gott ihnen vertrauen konnte. Gott vertraute ihnen, dass sie verantwortungsbewusst die Tora von Generation zu Generation weitergeben würden.

„Verantwortungsbewusst“ ist das zweite Stichwort, das mir in den Sinn gekommen ist. Unsere Vorfahren haben in großer Verantwortung die Tora und den Bund mit Gott angenommen. In dem Vertrauen, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben. Sie hatten sich für einen Weg entschieden, der auch noch für ihre Kinder sicher sein sollte. Ganz so wie Eltern auch heute noch wichtige Entscheidungen treffen, immer in der Hoffnung, dass diese auch zum Nutzen ihrer Kinder sein werden.

Die Gabe der Tora war nicht etwas Statisches, etwas Einmaliges, das damals am Sinai sein Ende gefunden hatte. So wie der Bund von Generation zu Generation weiter reicht, so ist die Tora selbst etwas sehr Lebendiges in unserer Mitte. Die Tora wurde unseren Vorfahren mit dem Hinweis übergeben, dass sie zu uns Menschen gehört und damit von uns interpretiert werden muss. In der Tora heißt es:

Dtn. 30.12. Lo BaShamaim Hi. Nicht im Himmel ist sie (die Tora).

Оно не на небе

יב  לֹא בַשָּׁמַיִם, הִוא:  לֵאמֹר, מִי יַעֲלֶה-לָּנוּ הַשָּׁמַיְמָה וְיִקָּחֶהָ לָּנוּ, וְיַשְׁמִעֵנוּ אֹתָהּ, וְנַעֲשֶׂנָּה.

Und wenige Zeilen weiter heißt es:

Dtn 30.19 Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.

Und dies gilt bis heute. Auch heute sind wir noch die Hüter der Tora. Wir sind diejenigen, die den Bund von den Generationen vor uns übernommen haben und ihn hoffentlich an die nächste Generation weitergeben dürfen. Wir genießen dasselbe Vertrauen von Gott, das er damals unseren Vorfahren gewährt hat. Gott vertraut uns, dass wir verantwortungsbewusst mit der Tora und seinem Bund umgehen. Und noch etwas gilt weiterhin: Wir dürfen keine Angst im Umgang mit der Tora haben.

Wir leben jetzt und hier. Wir müssen Dinge ausprobieren. Wir müssen schauen, wie wir Dinge verändern können, die sich als nicht gut erwiesen haben. Manchmal muss man leider Schulden machen, um etwas für die Zukunft aufbauen zu können. Manchmal muss man neue Techniken ausprobieren, um zu sehen, welche Fortschritte wir damit machen können. Wichtig ist dabei nur, dass wir unsere Grenzen erkennen, dass wir Fehler sehen, wenn wir sie machen und ,dass wir nicht weiter einen falschen Weg gehen, wenn wir schon längst wissen, dass er uns in die Irre führt.

Die Tora ist nicht im Himmel. Sie ist Teil unserer Welt und daher gilt  auch für die Tora, dass wir aktiv dafür sorgen müssen, dass sie weiterhin existieren kann. Wie ein alter Baum, den jede Generation umsorgen muss, dass er kräftig bleibt. Wie er, so soll auch die Tora Schutz und Halt geben, aber auch mit dem Wind gehen dürfen und neue Triebe hervorbringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tora genau so lebendig ist, wie alles andere auf dieser Welt, und dass jede Generation sie weiterentwickeln muss. Wir alle haben die Möglichkeit das mitzubestimmen, was wir an die nächste Generation weitergeben wollen.

Heute, an Jom Kippur, geht es darum, das wir erneut über unsere Fehler, Dummheiten und Sünden nachdenken sollen. Wir sollen die Grenzen unseres Handelns erkennen. Wir sollen überprüfen, ob wir noch auf dem Weg sind, der uns in die richtige Richtung bringt. Dabei geht es zwar auf den ersten Blick um die Vergangenheit, aber es geht eigentlich um noch viel viel mehr: Es geht um unsere Zukunft. Aus diesem Tag soll uns die Kraft und Hilfe erwachsen, die Zukunft weiter gestalten zu können.

Die Entscheidungen die wir machen, haben immer auch eine Auswirkung auf die Generationen, die noch nicht geboren wurden. Unser Handeln wird beeinflussen, welche jüdische Welt die nächsten Generationen vorfinden kann. Wenn wir uns immer vergegenwärtigen, dass unser Judentum etwas ist, das wir gleichzeitig von unseren Vorfahren geerbt und nur von unseren Kindern geliehen haben, werden wir alle dazu beitragen, dass das Judentum etwas sehr Lebendiges, Liebenswertes  und Lebenswertes bleibt.

Gmar Chatima Tova!

Ein neues Jahr und ein Sommerloch – Drascha zum Neuen Jahr

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“Und Abraham gab seinem Sohn, der ihm geboren worden war, den Sara ihm geboren hatte, den Namen Isaak. Und Abraham beschnitt seinen Sohn Isaak, als er acht Tage alt war, so, wie Gott ihm geboten hatte.“

Авраам дал новорожденному сыну, которого родила Сарра, имя Исаак. Когда его сыну Исааку исполнилось восемь дней, Авраам обрезал его, как велел ему Бог.

(Bereschit 21.3-4)

In Deutschland gibt es Regeln für alles. Wann die Schule beginnt, wie man sich im Auto auf der Straße verhalten muss, wie die Lebensmittel in Supermärkten verpackt sein müssen. Alles ist geregelt. Und es gibt eine weitere Regel: Im Sommer, also wenn die wichtigsten Politiker des Landes Urlaub machen, dann suchen weniger bekannte Politiker oder Journalisten nach Themen, mit denen sie bekannt werden können. Oft sind das Themen, die wenig Bedeutung haben und nach drei bis vier Wochen auf den Titelseiten unserer Zeitungen wieder verschwinden. Die Politiker aus der zweiten Reihe konnten sich ein bisschen im Scheinwerfer-Licht der Journalisten zeigen, die Zeitungen wurden trotz der Urlaubszeit gut verkauft und richtig Schlimmes ist nicht passiert. Nach den Sommerferien kommen Angela Merkel und die anderen wieder zurück nach Berlin und alles ist so wie immer.

Im Grunde stimmte diese Regel auch für das diesjährige Sommerloch-Thema. Ein paar Journalisten fanden ein perfektes Thema für die Sommerloch-Debatte: Einige Wochen zuvor hatte ein recht unbedeutendes Gericht in Köln geurteilt, dass die Beschneidung von Jungen eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit von Kindern sei. Da in Deutschland erstaunlicherweise keine Regelung bezüglich religiöser Beschneidungen existiert, haben die Juristen aus Köln, ganz bürokratisch Gesetze verglichen und wie Mathematiker ein Urteil gefällt. Dass sie nicht bedacht haben, dass Beschneidungen für Muslime und Juden auch eine sehr emotionale Bedeutung haben, kann man ihnen nicht unbedingt vorwerfen. Für emotionale Komponenten sind Politiker zuständig, die die Gesetze machen. Juristen urteilen nach diesen Gesetzen.

Zurück zum Sommerloch. Die Journalisten fanden also ein Thema, das emotional perfekt in die Sommerlochdebatte passen würde. Mindest. 50% der deutschen Bevölkerung, nämlich alle Männer, konnten etwas dazu sagen. Wenn es um den Intimbereich des Mannes geht, dann wird jeder Mann zu einem Experten, auch wenn er nicht beschnitten ist und eigentlich keine Ahnung hat, worum es in der Debatte geht.

Bis dahin glich die Sommerloch-Debatte jeder anderen. Otto-Normalverbraucher durfte mal Experte sein und seine Meinung äußern. Neu war in diesem Jahr aber, dass es nicht um die richtige Aufstellung der Fußball-National-Mannschaft ging, oder die Kleidung von Prominenten. Es ging plötzlich um „Wir“ und „Die“. Mit der Debatte wurde ein Teil der Bevölkerung gegen einen anderen Teil der Bevölkerung gestellt. Mit einem Mal standen alle Juden auf der Anklagebank. Es war wieder da: „Juden sind Kinderschänder“. Und weil die wichtigsten Politiker Deutschlands im Urlaub war, konnten selbsternannte Kinderretter ungehindert alte Parolen in die Presse bringen.

Die Regel lautet, dass das Sommerloch-Thema nach ein paar Wochen wieder verschwindet und niemand verletzt zurückbleiben wird. In diesem Jahr war es aber anders. Ja, das Thema wird wieder verschwinden. Das Urteil war so unbedeutend, dass man in Deutschland natürlich weiterhin Beschneidungen vornehmen kann und in einigen Wochen wird der Bundestag ein Gesetz verabschieden und alles wird perfekt geregelt sein. Aber für uns Juden hat sich etwas geändert. Die Verletzungen der letzten Wochen haben Spuren hinterlassen. Wenn der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland sagt, dass „Jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich“ sei, dann hat er vielleicht in der Hitze der Debatte übertrieben, aber dass er alleine zu solchen Worten greifen musste, zeigt, wie schwierig es bis heute ist, jüdisches Leben in Deutschland zu gestalten und wie stark alte Vorurteile gegenüber uns Juden bis heute vorhanden sind. Die Debatte um die Beschneidung hat alte Wunden neu aufgerissen und ich verstehe, dass viele Jüdinnen und Juden in Deutschland sehr verstört nach diesem Sommer überlegen, wie offen man noch jüdisch in Deutschland leben kann.

Im Zentrum des Tora-Abschnittes, den wir zu Rosch HaSchana lesen, steht der Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat. Die Beschneidung ist für uns Juden das andauernde Zeichen für diesen Bund. Wir Juden vertrauen seit Generationen darauf, dass Gott sein Versprechen gegenüber Abraham einhält, nämlich treu an unserer Seite zu stehen und wir Juden halten unseren Teil, in dem wir den Bund an unsere Kinder weitergeben. Wir geben unser Wissen weiter, so wie auch unsere Traditionen.

Ich weiß, dass nicht jeder männliche Jude beschnitten ist, und dass wir Juden natürlich darüber streiten sollten, ob wir eine Beschneidung der Vorhaut überhaupt noch für zeitgemäß halten. Als liberale Juden sollten wir sogar darüber diskutieren, denn jedes Gebot aus unserer Tradition sollte von jeder Generation neu diskutiert werden. Aber diese Diskussion müssen WIR führen. Wir sollten sie unabhängig von politischen Überlegungen führen, unabhängig von Ratgebern, die nicht verstehen, dass der Bund zwischen Gott und uns Juden eine Dimension hat, die über Gesetzestexte hinausgeht. Etwas, das so schwer zu beschreiben ist, wie Liebe oder Trauer. Unser Bund mit Gott ist so einmalig und unbeschreiblich, wie das Leben selbst.

Rosch HaSchana ist in der jüdischen Tradition der Geburtstag der Welt. Das wir uns gerade heute an die Erschaffung der Welt erinnern sollen, ist für mich kein Zufall. Es ist etwas Großartiges und etwas, das wir Menschen nicht einfach als etwas Selbstverständliches hinnehmen sollten. Genauso wenig wie den Bund zwischen Gott und uns Juden. Dass andere diese Besonderheit nicht wahrnehmen und ein Zeichen für diesen Bund, die Beschneidung, als etwas Barbarisches hinstellen, sollte uns nicht davon abhalten, trotzdem diesen Bund zu bewahren. Als Juden wissen wir, spätestens seit diesem Sommer, dass jüdisches Leben auch jetzt noch verteidigt werden muss. Wir wissen, dass Beschneidungen seit Generationen verantwortungsbewusst durchgeführt werden und wir unsere Kinder nicht verstümmeln. Eltern, die sich dafür entscheiden, an dieser Tradition festzuhalten, sollten die Möglichkeit dazu haben und wir alle sollten fest zu ihnen stehen. Womöglich sind wir nämlich die einzigen, die das tun werden.

Unsere Synagoge in Hameln, unsere Gemeinde, steht dafür, ein offenes Haus zu sein. Beiteinu, unser Haus ist offen für alle, die mit uns in den Dialog treten wollen, auch über die schwierigsten Fragen. An der Debatte in diesem Sommer hat mich gestört, dass es kein Dialog war, dass es wie gesagt eher ein „Wir“ und „Die“ war. Ich hoffe sehr und wünsche mir, dass diese unschöne Episode so schnell verschwindet, wie alle anderen Sommerloch-Themen und, dass das Miteinander, das hier in Hameln vorgelebt wird, wieder zur Normalität in Deutschland wird.

Und auch das sollten wir an diesem Rosch Ha Schana nicht vergessen: Gott hat die Welt nicht nur für uns Juden, oder für Muslime oder Christen erschaffen, sondern für alle Menschen, so wie Gott auch einen Bund mit allen Menschen geschlossen hat. Möge dies als Botschaft von diesem Rosch Ha Schana ausgehen. Möge das kommende Jahr für alle ein friedliches Jahr und ein Jahr des gegenseitigen Respektes werden.

Schana Tova

Tora Lesungen bis Schawuot in liberalen Gemeinden(5772)

Chaverim,

ich melde mich aus meiner Blog-Schlafpause, um Euch auf eine Besonderheit hinzuweisen, die momentan für die Tora-Lesungen in den liberalen Gemeinden gilt. Die nächsten Wochen (bis zum 19. Mai) sind die Tora-Lesungen in den Liberalen Gemeinden und in Israel andere, als in den traditionellen Gemeinden der Diaspora. Dies liegt daran, dass es in den liberalen Gemeinden, wie in Israel auch, kein 8 Pessachtag (Doppelung des 7. Tag Pessach) gefeiert wird, sondern Pessach am kommenden Freitag endet. Daher wird in israelischen und liberalen Gemeinden die normale Toralesung mit dem Abschnitt “Sch’mini” fortgesetzt. Erst zur BaMidbar sind die Lesungen wieder identisch (da der Wochenabschnitt “Bahar – Bechukotai” auf zwei Schabbatot aufgeteilt wird).

Damit ergeben sich für die kommenden Wochen folgende Lesungen :

Datum Abschnitt Haftarah* Traditionelle G.
14. April Sch’mini 2 Sam 6.1-7.17 8. Tg. Pessach
21. April Tasria-Mezora 2 Kön 7.3-20 Sch’mini
28. April Achare Mot-Kedoschim Amos 9.7-15 Tasria-Mezora
5. Mai Emor Ezechiel 44.15-31 Achare Mot-Kedoschim
12. Mai BaHar Jer 32.6-27 Emor
19. Mai BeChukotai Jer 16.19-17.14 BeHar-Bechukotai
26. Mai BaMidbar Hos 2.1-22 BaMidbar

* Haftarot nach Plaut

Einige liberale Gemeinden folgen aber der traditionellen Lesung für die Diaspora, daher empfehe ich, dass Ihr gezielt Eure Rabbiner fragt, was der Minhag Eurer Gemeinde ist.
Liebe Grüße

Moadim le Simcha

Adrian

Ohne Abschied geht es nicht – Shabbat Schuva

Der vergangene Schabbat war einer dieser besonderen Schabbatot, die ich persönlich sehr schätze. Er passt perfekt in diese Zeit. An ihm empfinde ich eine besondere Stimmung. Das Festliche von Rosch HaSchana liegt noch in der Luft und die nachdenkliche Stimmung der 10 Bußtage und von Jom Kippur sind fast greifbar.

Der Schabbat trägt den Namen „Schabbat Schuva“ – der Schabbat der Umkehr. Natürlich ist das auf die Hohen Feiertage bezogen. Dieser Schabbat soll uns auf dem Weg der Umkehr, der Teschuva, bestärken.

Es ist ein Teil unserer jüdischen Tradition, dass wir genau an diesem Schabbat den Wochenabschnitt „Ha’asinu“ lesen, gemeinsam mit allen anderen jüdischen Gemeinden. Im vorletzten Wochenabschnitt der Tora begegnet uns Mosche zum letzten Mal in einer großen Ansprache an das ganze Volk. In einem großen Gebet, das sehr poetisch verfasst ist, spricht er über die Gerechtigkeit Gottes und darüber, dass G’tt der Retter Israels war und ist, auch wenn das Volk immer wieder dem Götzendienst verfallen war. Mosche ermahnt die Israeliten die Tora in ihrem Herzen zu tragen, den sie ist unser Leben. Nach dieser Ansprache ruft G’tt Mosche auf den Berg Nebo, an der Grenze zu Kana’an, dem versprochenen Land. Von dort hat Mosche die Möglichkeit, das ganze Land zu überblicken. Aber G’tt macht auch klar, dass Mosche nicht mit über den Jordan ziehen darf. Er muss zurück bleiben.

Für mich ist es kein Zufall, dass dieser Wochenabschnitt genau am Schabbat zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur gelesen wird. Spiegelt er doch genau die Gefühle wieder, die so prägend für diesen Schabbat sind. Wir ziehen wie Mosche Bilanz, schauen zurück, hoffen, dass das, was wir in Vergangenheit gemacht haben, Früchte tragen wird. Und wir schauen in die Zukunft. Wir blicken auf das „Land, das wir erobern müssen“, auf das neue Jahr vor uns. Auch wenn wir schon gemeinsam den Jahresanfang in den Tagen zuvor gefeiert haben, so richtig sind wir noch nicht angekommen. Und die Mahnungen von Mosche an die Israeliten sind auch für unseren Weg von Bedeutung.

Dieser Wochenabschnitt trägt neben dem Nachdenklichen auch etwas trauriges in sich. G’tt Erinnerung an Mosche, dass dieser nicht selbst ins Land Kana’an einziehen darf ist Jahr für Jahr eine traurige Mahnung, dass unser Handeln auch Konsequenzen haben kann, die nicht erstrebenswert sind. Zudem stehen die Schilderungen von Mosches Tod unmittelbar bevor. Ein Abschied, den wir Jahr für Jahr – wie alle Generationen vor uns – genau zu diesem Zeitpunkt im Kalender vollziehen müssen. Gerade dieser Teil birgt eine wichtige Lehre für uns. Der Wochenabschnitt vermittelt uns die Botschaft, dass jeder Neuanfang auch ein Loslassen beinhaltet.

Ein Abschiednehmen gehört zu jedem Neubeginn.

Zum Beispiel gehörte zum Einzug in unsere neue, wunderbare Synagoge in Hameln, dass wir die alten Räume zurücklassen mussten. Das war zwar einfach, aber denkt man an die vielen schönen Momente, die wir auch in der alten Synagoge hatten, schleicht sich doch ein bisschen Wehmut mit ein. Die alten Räume waren vertraut und eine Heimat, die zu verlassen schon nicht mehr ganz so leicht war. Heimat ist ein weiteres Stichwort. Eigentlich fast jeder von uns ist schon mehrfach in seinem Leben umgezogen. Das ist Teil unserer mobilen Welt. Einige haben sogar Ländergrenzen auf ihrer „Reise“ überwunden. Jeder weiß, dass der Abschied trotz aller Vorfreude auf das Neue sehr schmerzhaft sein kann. Freundschaften, Liebe, Partnerschaften – nichts gibt es ohne Abschiednehmen. Und sei es nur ein Abschied von der Einsamkeit. Loslassen hat immer beide Seiten. Etwas trauriges und etwas schönes.

Der Wochenabschnitt Ha’asinu beschreibt genau das:
Der Neuanfang, die Eroberung des Landes Kana’an hätte nicht gelingen können, wenn Mosche weiterhin der Anführer der Israeliten geblieben wäre. Neue Wege brauchten neue Strategien. Um neue Wege beschreiten zu können, braucht man auch Freiraum, Freiraum um sich entfalten zu können. Wie hätte eine neue Generation von Anführern die notwendige Autorität gewinnen können, wenn Mosche noch immer an der Spitze gestanden hätte.

Für uns, jetzt und heute, ist die Botschaft die gleiche. Umkehr bedeutet nicht, dass wir irgendwohin zurückgehen sollen. Umkehr bedeutet, dass wir einen Weg beschreiten sollen, in dem das g’ttliche mehr Platz in unserem Alltag findet. Das sind eventuell sogar „Orte“, die völliges Neuland für uns sind. Im gehört dazu, dass wir etwas zurücklassen müssen. Vielleicht eine liebgewordene Angewohnheit, oder etwas, dass uns das Gefühl von Sicherheit gegeben hat, vielleicht nur gewisse Routinen. Hoffentlich ist auch etwas dabei, das wir gerne zurücklassen. Abschied muss nicht immer etwas schlechtes sein. Nur, ohne Abschied geht es nicht.

Das ist die Botschaft von diesem Wochenabschnitt und von diesem besonderen Schabbat. In wenigen Tagen ist Jom Kippur. Möge die verbleibende Zeit bis dahin Euch helfen, Eure eigenen Wege zu finden. Und wem das nicht reicht. Jeder Tag ist auch ein neuer Tag. Jom Kippur, Teschuva und ein Neubeginn braucht keinen festen Tag im Kalender, sondern nur einen festen Willen.

Gmar Chatima Tova

Ma Tovu Ohaleicha Yaakov? – Sind unsere Zelte noch so schön? Drascha zu Balak

23.7 Da begann er [Biliam] seinen Spruch und sprach: Aus Aram hat Balak mich hergeführt, von den Bergen des Ostens der König von Moab: Komm, verfluche mir Jakob! Ja, komm und verwünsche Israel!
8 Wie soll ich verfluchen, wen Gott nicht verflucht, und wie verwünschen, wen der EWIGE nicht verwünscht hat?
9 Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, und von den Höhen herab schaue ich es; siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und sich nicht zu den Nationen rechnet.

24.2 Und Bileam erhob seine Augen und sah Israel, gelagert nach seinen Stämmen; und der Geist Gottes kam über ihn.
24.3 Und er begann seinen Spruch und sprach: Es spricht Bileam, der Sohn Beors, und es spricht der Mann mit geöffnetem Auge.
4 Es spricht, der die Worte Gottes hört, der ein Gesicht des Allmächtigen sieht, der niederfällt mit enthüllten Augen:
5 Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!
6 Wie Täler breiten sie sich aus, wie Gärten am Strom, wie Aloebäume, die der Ewige gepflanzt hat, wie Zedern am Wasser.

9 Die, die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht!

 

מה־טבו אהליך יעקב משכנתיך ישראל׃

Ihr kennt alle diesen Satz aus unserem Wochenabschnitt.
Stellt Euch nun, für die nächsten paar Minuten, vor, der Satz würde nicht mit einem Ausrufezeichen enden, sondern mit einem Fragezeichen.

Wie schön sind Deine Zelte Jaakov?

Wie schön sind Deine Wohnstätten Israel?

–  Denkt Ihr, Biliam würde seinen Segen auch heute noch so sprechen?

– Sind  unsere Zelte noch genauso schön wie einst?

– Werden wir den Ansprüchen und Beschreibungen Biliams in den vier Segenssprüchen aus unserem Wochenabschnitt noch gerecht?

– Oder müssten die Orakel umgeschrieben werden?

– Sind wir nicht längst weiter gezogen?

– Haben wir nicht längst neue Zelte gebaut, anders und an anderen Orten?

– Wie würde Biliam uns heute sehen?

– Und was würden wir uns wünschen, wie er uns sehen soll?

Welche Zukunft soll Biliam uns, den Kindeskindern Israels, bescheinigen?

Um klarer zu werden, lasst mich die Frage noch einmal ein wenig anders formulieren:

– Wie verstehen wir unser Judentum heute?

– Was ist es, dass uns zu liberalen, progressiven Jüdinnen und Juden macht?

– Wie sehen wir uns?

– Und wie wollen wir von anderen wahrgenommen werden?

Welche Visionen haben wir für unsere Zukunft?

Siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und sich nicht zu den Nationen rechnet.

So beschreibt Biliam das Erscheinungsbild unserer Vorfahren in ihrer Welt. Jüdische Kommentatoren sahen durch die Jahrhunderte hinweg einen großen Vorteil in dieser Zurückgezogenheit. Sie half uns, so die Rabbinen, unsere eigene Identität zu wahren. Es bewahrte uns davor, unterzugehen. Die Abgeschiedenheit schütze unsere Unabhängigkeit.

– Sehen wir! uns noch an diesem Ort?

– Ist Abgeschiedenheit ein Modell für uns heute, im hier und jetzt?

– Ein Judentum, das getrennt von anderen Religionen ist?

– Sollen wir als Jüdinnen und Juden getrennt von allen anderen „Nationen“ leben?

– Im Städtl, im Ghetto oder Bnei Barak?

Ist es wirklich das, was wir wollen?

Ich denke nein! Ganz im Gegenteil! Als liberale Jüdinnen und Juden glauben wir an den Dialog, an die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Jung und Jüdisch in Berlin steht in einem wunderbaren Dialog mit einer muslimischen Gemeinde hier in Berlin und mit Muslimen aus ganz Deutschland. Die meisten von Euch sind Teil der jüdisch-christlichen Gesellschaften – nicht ohne Grund. In alle Synagogen laden wir Schulklassen ein, zum einander kennenlernen. Wir tragen Tag für Tag dazu bei, dass die Distanz zwischen uns und „den anderen“ kleiner und kleiner wird.

Ich bin davon überzeugt, dass wir durch diese Haltung viel Gewinnen. Mehr als wir jemals verlieren können. Die Angst der Rabbinen, dass wir unsere Identität verlieren, wenn wir unter den Völkern leben, teile ich nicht. Wir können sie stärken, weil wir durch den anderen viel mehr von uns selbst sehen können. Biliam, der Visionär, der Seher von Außerhalb konnte die Größe Israels beschreiben, während die Israeliten damit beschäftigt waren, über ihre eigene Führerschaft zu streiten und über ihre Vergangenheit nachzudenken.

In meiner Vision eines neuen Biliam-Segens spricht Biliam nicht mehr von einem Volk, dass abgesondert von den Nationen lebt, sondern er preist ein Volk, das in mitten der anderen lebt. Offen für Lob und auch für Kritik von anderen. Ein Judentum, dass nicht nur bereit ist, zu kämpfen, sondern auch selbst zu loben und zu segnen.

 Und Bileam erhob seine Augen und sah Israel, gelagert nach seinen Stämmen;

Der Ausspruch Biliams, dass die Kinder Israels Stamm für Stamm, siedeln, interpretiert der Midrasch und später der Talmud in Baba Batra 60a nicht nur als Stamm für Stamm, sondern als von einander abgewandt. Diese Abgewandheit ist nach Meinung der Rabbinen die Grundlage für Modesty, Zinut, Zurückhaltung. Ein Ausdruck von Respekt vor der Privatsphäre des anderen.

Auch diese Aussagen möchte ich mit einem Fragezeichen versehen:

– Wie stehen wir als liberale Juden dazu?

– Wie wollen wir unsere Zelte unter Klal Israel aufschlagen?

Was wird einst Biliam sagen, wenn er uns heute von seinem Hügel aus beobachtet? 

– Sieht er uns hinter hohen Mauern, die uns vor den Blicken der anderen Schützen, oder sieht er, dass wir die Mauern einreißen, um den anderen wieder sehen zu können?

– Ist es nicht so, dass wir vor lauter falschen Bescheidenheit uns selbst soweit von einander entfernt haben, dass wir den anderen nicht mehr sehen können?

-Haben wir nicht manchmal mehr negative Vorbehalte vor den anderen Strömungen im Judentum, als freundschaftliche und familiäre?

Ist es nicht manchmal so, dass die Angst, falsch verstanden zu werden, uns abhält als jüdische Gemeinschaft gegen Unterdrückung, Benachteiligung und Ungerechtigkeiten einzutreten?

– Sollte uns nicht zum Beispiel die große Armut unter den ultraorthodoxen Gemeinden genauso umtreiben, wie die Benachteiligung von progressiven Gemeinden in Israel?

– Wie Positionieren wir uns in der zunehmend Anti-Türkischen Stimmung in Deutschland?

Wir als liberale Juden sind auf einem gutem Weg. Wir schauen nicht weg und wir dürfen es auch nicht, denn es ist an der Zeit, dass wir in unseren Zelte von damals, neue Fenster und Türen einfügen. Wir müssen sehen was um uns herum passiert.

Biliams erster Segen endet damit, dass derjenige, der Israel segnet, gesegnet sein wird. In meiner Vision einer neuen Biliamsrede, werden wir als ein Volk beschrieben, dass den ersten Schritt macht. Indem wir Segen bringen, erhalten wir unseren Segen. By blessing the other, we will be blessed.

Wie Täler breiten sie sich aus, wie Gärten am Strom, wie Aloebäume, die der Ewige gepflanzt hat, wie Zedern am Wasser.

Vor kurzem wurde mir von einem orthodoxen Juden vorgeworfen, Reformjudentum sei „nur“ Ethik. Er fragte, ob wir noch Gott sehen? Wo sei die Bescheidenheit, Zinut, Zurückhaltung? Wo der Gehorsam gegenüber Gott? Wo die Rote Kuh, die wir opfern sollen, ohne zu verstehen warum?

– Ganz ehrlich? Ist das wirklich eine Anschuldigung, oder nicht doch eher ein Kompliment?

– Sagt nicht das Kleingedruckte  in unserem Partnerschaftsvertrag mit Gott, dass ethisches Denken und Handeln im Vordergrund stehen sollte?

– Ist nicht das, was wir als liberale Jüdinnen und Juden zu unserer Welt beitragen können so wichtig, dass zu viel Bescheidenheit und Zurückhaltung mehr behindern als befördern?

– Ist nicht eine Welt, die ethisches Handeln NICHT als Gottesdienst versteht, eine Welt, in der sich Menschen voneinander entfernen, anstatt aufeinander zuzugehen.

Tikkun Olam ist nicht ein Gottesersatz für uns. TikkunOlam ist unser Ausdruck unserer Liebe zu Gott und zu unserer Umwelt. Gott zu dienen endet nicht mit der Frage was wir anziehen oder wie oft wir beten. Gott zu dienen ist ein ständiger Dialog zwischen uns und dem anderen. Es endet nie und es ist selten wirklich leise.

Wir liberale Juden verstehen den prophetischen Ausspruch, ein Licht für die Völker zu sein (Jes 49.6), nicht als elitäre Aussonderung, sondern als eine Aufgabe Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen.

Biliams Vision war noch geprägt von einer physischen Stärke, von einem Ausbreiten im Land und auf der Welt, für uns wünsche ich mir, dass unsere Ideen und Gedanken, unsere Träume von einer gerechten und besseren Welt mehr und mehr Platz finden. Und dass wir Kraft finden, sie umzusetzen und für sie einzutreten.

Um zurück zu meinen Fragen vom Anfang zu kommen:
Ja, ich bin davon überzeugt, dass Biliam unsere Zelte auch heute noch als „schön“ bezeichnen würde. Und zwar mit Ausrufezeichen!

Er würde aber den Rest seines Segens anders formulieren.
Er würde hinzufügen,

– dass unsere Zelte ein Teil dieser Welt sind,

– dass sie offene Synagogen sind,

– dass in ihnen Jugendgruppen von Netzer zu finden sind, die sich genauso für soziale Projekte engagieren, wie sie auch ihre jüdische Identität entdecken.

Er würde unsere Zelte als bunt und fröhlich beschreiben,

in denen jede und jeder ihren und seinen Platz finden kann.

Unsere Zelte sind noch nicht perfekt. Manchmal sind wir noch zu sehr abgewandt, zu sehr mit uns selbst beschäftigt. In vielen Dingen sind unsere Wasserläufe noch kleine, kleine Rinnsale. Soziales Engagement, Zedaka, ist im Herzen all’ unserer Gemeinden zu finden, aber manchmal ist das noch zu sehr ein Geheimnis. Wir dürfen ruhig ein wenig mehr offensiv damit umgehen. Wir haben als Juden in Deutschland etwas zu sagen, wir können, wollen und müssen etwas beitragen.

Ich wünsche mir eine Welt, in der Bileam uns Jüdinnen und Juden in der Mitte aller Nationen sieht. Ich wünsche mir ein großes Zelt, offen nach allen Seiten, inklusiv und lebendig. Für Juden und Nichtjuden, liberale und orthodoxe, Frauen, Kinder und Männer. Möge dies auch Gottes Wille sein.

Ken Ihi Ratzon.

Vor dem Holocaust

Fotos zum jüdischen Alltagsleben Hessen

Gestern Abend fand ich in meiner Email-Post einen Hinweis auf ein neues Web-Portal. Im Wesentlichen handelt es sich um eine kommentierte Fotosammlung. Kern der virtuellen Ausstellung sind Fotos aus dem Alltagsleben von hessischen Juden vor der Shoah, ergänzt mit Fotos aus der Verfolgungszeit und aus den Jahren danach. Vorrangiges Ziel der Website, die vom Fritz Bauer Institut (in Kooperation mit dem Pädagogische Zentrum Frankfurt und dem Jüdischen Museum in Frankfurt/M.) betrieben wird, ist die Bereitstellung von Dokumentationsmaterial für den Schulunterricht. Lehrer und Schüler sollen Bildmaterialien an die Hand bekommen, mit dem sie jüdisches Leben in Hessen vor der Shoah besser visuell erfassen können.

Als Hesse habe ich natürlich geschaut, was aus meinem Heimatort zu finden ist. Leider ist es noch sehr wenig, aber es ist ein Anfang. Man merkt, dass die Dokumentation jüdischen Lebens von rund 400 Gemeinden bisher nur teilweise erfolgen konnte. Und ich hoffe, dass durch die Website neue, weitere Fotos hinzugefügt werden können. Wie es geht, an wen man sich wenden muss, und weitere Informationen findet Ihr auf der Website:

www.vor-dem-holocaust.de

www.vor-dem-holocaust.de

Hier ein Auszug aus der Email:

Das neue Web-Portal »Vor dem Holocaust« – Fotos zum jüdischen Alltagsleben Hessen (www.vor-dem-holocaust.de) ist das Ergebnis langjähriger Forschungsarbeit. Es bietet Fotos zu vielfältigen Aspekten jüdischen Alltagslebens in hessischen Städten und Dörfern und erschließt sie biografisch und historisch. Die Fotos sind ein einzigartiger Fundus zur Erinnerung an eine komplexe kulturelle Lebenswelt in Hessen, die durch die nationalsozialistische Verfolgung zerstört und ausgelöscht wurde. Kein anderes Medium kann das alltägliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden vor der Zeit des Nationalsozialismus so anschaulich vermitteln wie diese zumeist von Laien aufgenommenen Fotografien.

Das Portal zeigt auch Fotos zur nationalsozialistischen Verfolgung und insbesondere zu den Reaktionen jüdischer Menschen in Hessen auf die nationalsozialistische Bedrohung. Schülerinnen und Schülern sind auf dieser Website unterschiedliche Möglichkeiten geboten, sich individuell anzunähern an Themenfelder wie Familie, Schule, Arbeit, religiöses Leben, NS-Verfolgung und Reaktionen auf die NS-Verfolgung.
Die Website mit ihren verschiedenen Zugängen wird in der Fortbildung vorgestellt. Möglichkeiten zur pädagogischen Nutzung werden aufgezeigt und diskutiert.

Baruch Dajan Ha Emet

Gestern habe ich die traurige Nachricht erhalten, dass Frau Professor Dr.
Francesca Yardenit Albertini als Folge ihres chronischen Leidens im Alter von 37 Jahren verstorben ist. Frau Albertini war Professorin an der Uni und ab und an mal auch ein Teil unseres Studenten-Minjans am Kolleg. Eine Lehrerin zu verlieren ist ein Schock, eine so junge Frau, die mit einer grossen Hingabe fuer die Wissenschaft machen von uns inspirieren konnte ein Verlust, den wir vielleicht erst viel Spaeter begreifen werden können.

Baruch Dayan Emet.

Weitere Informationen auf uni potsdam

Eine neue Synagoge

Am vergangenen Wochenende wurde in Hameln die neue Synagoge der Gemeinde feierlich eröffnet. Es war ein bewegender Augenblick, für mich, aber noch um einiges mehr für die rund 200 Gemeindemitglieder, die alle Anteil an diesem Erfolg, an ihrem Haus haben. Folgerichtig heißt die neue Synagoge “Beiteinu” – unser Haus.

“Die neue Synagoge ruht auf den Schultern der alten Synagoge”, so beschrieb die Gemeindevorsitzende Rachel Dohme das Fundament des Neubaus. Die Synagoge wurde exakt an der Stelle gebaut, an der bereits zwischen 1876 und 1938 die letzte Synagoge der Stadt Hameln stand. Zerstörrt durch die Naziz in der Pogromnacht und anschließend auf Kosten der damaligen Gemeinde abgerissen.

Der Neubau ist der erste Neubau einer liberalen Synagoge in Deutschland seit den Schrecken und der Vernichtung des zweiten Weltkrieges. Bad Segeberg war eine Wiederherstellung, Hannover und Bielefeld umwidmungen von Kirchen und alle anderen liberalen Gemeinden sind derzeit noch in gemieteten Räumen. Wenn ich es richtig im Kopf habe, war die Hamelner Synagoge auch der preisgünstigste Synagogenbau der letzten Jahre.

Nachfolgend weitere Bilder aus Hameln. Wer mehr zur Gemeinde erfahren möchte, dem empfehle ich einen Blick in den Gemeindenewsletter auf: JGH-REFORM.

P.S.: Ich bin das nächste Mal zu Purim in Hameln und werde dann testen, wie es ist, auf der Bimah zu stehen 🙂

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