Die Vergewaltigung Dinas – Vajischlach (Ber 34.1)

Man muss kein Feminist sein, um in dieser Geschichte große ethische Probleme zu erkennen und man muss auch kein Feminist sein, um Problem mit der Rezeptionsgeschichte zu haben. Ich weiss nicht, welche Bedeutung eine Vergewaltigung einer Frau in jener Zeit hatte. Die Rechtsvorschriften, die die Bibel in Devarim 22:29 vorgibt, lassen - eine Kompensationszahlung an den Vater und die Zwangsehe, aus der sich der Mann nicht Scheidenlassen kann – stark vermuten, dass eine Vergewaltigung einer Jungfrau den Besitz des Vaters schmälerte. Eine „Opferhilfe“ war wohl eher nicht in Sicht. Die Schilderung in der Torah beschreibt die einzige aktive Handlung Dinahs am Anfang der Geschichte: sie ging hinaus, um die Töchter der Stadt zu sehen. Danach wird sie zum Objekt der Begierde und Lockmittel für die Revanche. Auf Grund dieser Beschreibung scheint es mit nicht verwunderlich, dass wir in der Rezeptionsgeschichte schnell die Schuldzuweisung für die ganze folgende Geschichte auf Dinah vorfinden: - In Tanchuma, Vayischlach 5 finden wir folgendes: Eine Frau soll sich nicht auf der Straße mit auffälligem Schmuck zeigen. Schmuck wurde der Frau gegeben um sich selbst zu schmücken, in ihrem eigenen Haus, für ihren Ehemann. Es wäre falsch, einen Stolperstein vor einen gerechten Mann zu legen, umso mehr noch, vor Menschen, die auf der Ausschau nach der Möglichkeit sind, zu sündigen. (Q1) Das bedeutet, weil Dina andere Frauen der Stadt kennenlernen wollte und aus dem Haus gegangen ist, wurde sie vergewaltigt. ....

Diesen Shabbat lesen wir über eine nicht so einfache Episode in der Geschichte unserer Erväter und Erzmütter.

34.1 Und Dina, die Tochter Leas, die sie dem Jakob geboren hatte, ging aus, die Töchter des Landes zu sehen. 2 Da sah Sichem sie, der Sohn des Hewiters Hamor, des Fürsten des Landes; und er nahm sie und legte sich zu ihr und tat ihr Gewalt an. … 5 Und Jakob hatte gehört, dass er seine Tochter Dina entehrt hatte, seine Söhne aber waren mit seinem Vieh auf dem Feld; so schwieg Jakob, bis sie kamen. … 13 Da antworteten die Söhne Jakobs dem Sichem und seinem Vater Hamor mit Hinterlist1 und redeten, weil er ihre Schwester Dina entehrt hatte; 14 und sie sagten zu ihnen: Wir können das nicht tun, unsere Schwester einem unbeschnittenen Mann geben, denn das wäre eine Schande für uns. 15 Nur2 unter der Bedingung wollen wir euch zu Willen sein, wenn ihr werdet wie wir, indem sich alles Männliche bei euch beschneiden lässt; 16 dann wollen wir euch unsere Töchter geben und uns eure Töchter nehmen, und wir wollen bei euch wohnen bleiben und zu einem Volk werden. 17 Wenn ihr aber nicht auf uns hört, euch beschneiden zu lassen, dann nehmen wir unsere Tochter und ziehen weg. 18 Und ihre Worte waren gut in den Augen Hamors und in den Augen Sichems, des Sohnes Hamors. 19 Und der junge Mann zögerte nicht, dies3 zu tun, denn er hatte Gefallen an der Tochter Jakobs. Und er genoss mehr Ansehen als alle im Haus seines Vaters. 20 Und Hamor und sein Sohn Sichem kamen in das Tor ihrer Stadt, und sie redeten zu den Männern ihrer Stadt und sagten: 21 Diese Männer sind friedlich gegen uns gesinnt, so mögen sie im Land wohnen bleiben und darin verkehren; und das Land, siehe, nach beiden Seiten ausgedehnt liegt es vor ihnen. Wir wollen uns ihre Töchter als Frauen nehmen und ihnen unsere Töchter geben. 22 Nur4 unter der Bedingung wollen die Männer uns zu Willen sein, bei uns zu wohnen und ein Volk mit uns zu werden, dass sich bei uns alles Männliche beschneiden lässt, so wie sie beschnitten sind. 23 Ihre Herden und ihr Besitz und all ihr Vieh, werden die nicht uns gehören? Nur5 lasst uns ihnen zu Willen sein, und sie werden bei uns wohnen. 24 Da hörten auf Hamor und auf seinen Sohn Sichem alle, die zum Tor seiner Stadt ein- und ausgingen. So ließ sich alles Männliche beschneiden, alle, die zum Tor seiner Stadt ein- und ausgingen. 25 Und es geschah am dritten Tag, als sie in Schmerzen waren, da nahmen die beiden Söhne Jakobs, Simeon und Levi, die Brüder Dinas, jeder sein Schwert und kamen ungehindert gegen die Stadt6 und erschlugen alles Männliche. 26 Auch Hamor und seinen Sohn Sichem erschlugen sie mit der Schärfe des Schwertes und nahmen Dina aus dem Haus Sichems und gingen davon. 27 Die Söhne Jakobs kamen über die Erschlagenen und plünderten die Stadt, weil sie ihre Schwester entehrt hatten. 28 Ihre Schafe und ihre Rinder und ihre Esel und alles, was in der Stadt und was auf dem Feld war, nahmen sie; 29 und all ihr Vermögen und alle ihre Kinder und ihre Frauen führten sie weg und plünderten auch alles, was in den Häusern war. 30 Da sagte Jakob zu Simeon und Levi: Ihr habt mich ins Unglück gebracht, indem ihr mich stinkend macht bei den Bewohnern des Landes, bei den Kanaanitern und bei den Perisitern. Ich aber bin ein geringes Häuflein7. Wenn sie sich gegen mich versammeln, werden sie mich schlagen, und ich werde vernichtet, ich und mein Haus. 31 Sie aber sagten: Durfte er unsere Schwester wie eine Hure behandeln? (Elberfelder Rev. Übersetzung)

Man muss kein Feminist sein, um in dieser Geschichte große ethische Probleme zu erkennen und man muss auch kein Feminist sein, um Problem mit der Rezeptionsgeschichte zu haben. Ich weiss nicht, welche Bedeutung eine Vergewaltigung einer Frau in jener Zeit hatte. Die Rechtsvorschriften, die die Bibel in Devarim 22:29 vorgibt, lassen – eine Kompensationszahlung an den Vater und die Zwangsehe, aus der sich der Mann nicht Scheidenlassen kann – stark vermuten, dass eine Vergewaltigung einer Jungfrau den Besitz des Vaters schmälerte. Eine „Opferhilfe“ war wohl eher nicht in Sicht. Die Schilderung in der Torah beschreibt die einzige aktive Handlung Dinahs am Anfang der Geschichte: sie ging hinaus, um die Töchter der Stadt zu sehen. Danach wird sie zum Objekt der Begierde und Lockmittel für die Revanche.
Auf Grund dieser Beschreibung scheint es mit nicht verwunderlich, dass wir in der Rezeptionsgeschichte schnell die Schuldzuweisung für die ganze folgende Geschichte auf Dinah vorfinden:
– In Tanchuma, Vayischlach 5 finden wir folgendes: Eine Frau soll sich nicht auf der Straße mit auffälligem Schmuck zeigen. Schmuck wurde der Frau gegeben um sich selbst zu schmücken, in ihrem eigenen Haus, für ihren Ehemann. Es wäre falsch, einen Stolperstein vor einen gerechten Mann zu legen, umso mehr noch, vor Menschen, die auf der Ausschau nach der Möglichkeit sind, zu sündigen. (Q1)

Das bedeutet, weil Dina andere Frauen der Stadt kennenlernen wollte und aus dem Haus gegangen ist, wurde sie vergewaltigt.

– In Bereshit Rabba, Vayischlach 80:1-5 und Tze‘enah u Re’enah, Vaischlach, 34.1 finden wir die Schuldzuschreibung in Richtung Leah, die ein schlechtes Vorbild für Dinah gewesen sein soll. (Herangezogen wird Bereshit 30:16, in dem sich Leah Jakob andient). (Q1)
Erschreckend interessant war es für mich, im Laufe dieser Woche, bei verschiedenen Gesprächen über diesen Wochenabschnitt, aber auch als Reaktion auf eine Erzählung von Yusuf Idris (Ka al Medina), in der die Vergewaltigung einer Hausangestellten durch den Hausbesitzer geschildert wird – dieser nutzt ihre Notlage aus und sie schweigt -, dass Männer, aber auch Frauen schnell dazu neigen, die erste Schuld bei dem Opfer zu suchen. „Sie hätte sich wehren können“, „Sie muss etwas getan haben, um es zu verdienen“. Ich bin keine Frau, die schon einmal vergewaltigt wurde und ich kann mit nicht wirklich vorstellen, welcher Schmerz mit der Entwürdigung einher geht, aber ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht beteiligten, durch die Schuldzuschreibung an das Opfer die Tat nur verstärken und die Entwürdigung weiter fortschreiben. Ob der folgende Vergleich von Fields (Q1) ganz passend ist – ich bin mir da nicht ganz sicher, aber ich sehe tatsächlich Parallelen: „Einer Frau die Schuld an ihrer Vergewaltigung zuzuschreiben, ist genauso wenig haltlos, wie Juden die Schuld an ihrer eigenen Ermordung durch die Nazis zu geben“.
Im nächsten Schritt wende ich mich den Reaktion von Ja‘akow und seinen Söhnen ist und ob ihre Tat eine angemessene Strafe war: Ja‘akovs Schweigen und seine einzige Sorge um seinen Ruf. Und die Racheaktion der Söhne.
– Genesis Rabbah 80:2 verteidigt Schimon und Levi, da sie ihre Schwester als bloßes Objekt einer Begierde von Schechem entwürdigt sehen. An anderer Stelle können wir lesen, dass die Tat gar keine Revanche für die Entehrung der Schwester war, sondern eine Art Präventionsschlag gegen Schechem als ganzes Volk. Mit der Vergewaltigung von Dina haben sie bereits gezeigt, dass sie Israel nicht respektieren und wahrscheinlich in Zukunft als ganzes angegriffen hätten. Dinah war also nur ein Testfall. (Rabbi Bechaje, Tze‘enah u Re’enah, Vaischlach, P. 171 – Q1).

– Die Stadtbevölkerung hat sich Schuld aufgeladen, weil sie von der Tat wussten, aber nicht den Täter vor Gericht gestellt hat. (Rambam)

– Hirsch sieht, dass die beiden (schimon und Levi) zu weit gegangen sind. Die Stadtbewohner haben keine Schuld gehabt (Kollektivstrafe für die Tat der Anführer).

– Die Theorie von Nachmanides, dass die Bewohner von Schechem ein Brudervolk von Israel hätte werden können, dass auch sie G‘tt als einzigen G‘tt anerkannt hätte usw., lässt auch hier außer Sicht, dass Dina hierfür der Preis hätte sein müssen.

Ich habe keine Quelle gefunden, die eine deutliche Gegenposition zu den obigen einnimmt – für Quellen und weitere Diskussionen wäre ich Euch dankbar.