yoav sapir schreibt in seinem blog in einer aktuellen diskussion zum abraham geiger kolleg:
Meine Aussagen rühren also nicht daher, dass das AGK nicht gut genug ist, sondern daher, dass Jerusalem einem angehenden Rabbiner weit bessere Bildungs- und Erfahrungsmöglichkeiten bieten kann als Berlin. [weiterlesen (letzter kommentar) …]
ist das wirklich so? und wenn, für wen? ja, jerusalem hat viel zu bieten und zum sammeln von erfahrungen ist es einer der interessantesten orte der welt, aber ich glaube widersprechen zu können, wenn es darum geht, gute rabbiner für deutschland ausbilden zu können. wie yoav im gleichen kommentar schreibt, liegt deutschland in einer – jüdisch gesehen – ganz anderen welt und ich bin davon überzeugt, dass ein mann oder eine frau auf die arbeit hier anders vorbereitet werden sollte, als ein rabbiner für israel oder für die usa.
was bringt es, ganze talmud-traktate auswendig zu können, wenn man nicht die leute auf dem wissensstand abholen kann, auf dem sie sich befinden, bat- und bar-mitzwah-unterricht bedeutet in deutschland was anderes als in israel, jüdisch-sein hat ganz andere dimensionen in einer christlichen umwelt, in deutschland sind rabbiner oft “alleinunterhalter” – haben also keinen chasan an der seite, keine weiteren religionslehrer …, usw. dies sind einige der dinge, mit denen wir uns am kolleg auch auseinandersetzen, inklusive der tatsache, dass wir hier auch leben und damit dieses judentum auch erleben.
“importierte” rabbiner, so war es auch oft in stimmen aus dem zentralrat zu hören, sind eine übergangslösung. die reibungsverluste, die bei der integration der rabbiner entstehen, kann sich eine jüdische gemeinschaft, wie wir sie hier in deutschland haben, eigentlich nicht leisten und daher halte ich es auch persönlich für wünschenswert, wenn sich neben dem geiger-kolleg noch eine weitere ausbildungsstätte für orthodoxe rabbiner etabliert (lauder in berlin könnte eine gute möglichkeit sein).
es stellt sich mir natürlich die frage, ob wir (yoav und ich) ganz unterschiedliche vorstellungen von dem haben, was ein rabbiner, was eine rabbinerin sein sollte? wo liegen die aufgaben? wie sieht seine job-beschreibung aus?
vor einiger zeit habe ich bereits dazu etwas geschrieben:
Es gibt genügend Potential in den Gemeinden, also Menschen, die gerne Aufgaben übernehmen wollen und nur eine „Starthilfe“ brauchen. Genau darin sehe ich eine Aufgabe eines Rabbiners. Er bzw. sie muss den Mitgliedern der Gemeinde hilfreich zur Seite stehen, sie ermutigen, selbst tätig zu werden, und er/sie muss ihnen vor allem genügend Freiraum lassen, selbständig handeln zu können. …
Judentum, Jüdischsein, das Engagement in der Gemeinde – all das kann richtig Spaß machen und ich glaube, dass ein Rabbiner das vermitteln kann und muss. Gerade den liberalen Gemeinden ist es in den letzen Jahren gelungen, ein selbstbewusstes jüdisches Leben in Deutschland aufzubauen, und dies muss auch von Rabbinern so vertreten werden.
…ich erwarte, dass durch die oben beschriebene Professionalisierung der Gemeinden, die Gemeinderabbiner mehr Kapazitäten für den, in meinen Augen weiteren wichtigen Schwerpunkt, die Seelsorge, bekommen werden.
Ein Rabbiner ist heute meines Erachtens nicht nur Lehrer und Mitglied eines Beit-Dins. Mitglieder der Gemeinde müssen individuell begleitet werden. Es ist genauso wichtig, eine Hochzeit vorzubereiten, eine Bat- oder Bar-Mitzwah zu begleiten, ein Begräbnis würdevoll zu gestalten, wie auf Arbeitslosigkeit, Liebesprobleme oder eine Umweltkatastrophe eine Antwort geben zu können.
Religion konkurriert mit vielen anderen Angeboten, es geht also auch darum, Menschen im Glauben an G’tt eine sinnvolle Alternative zu allem Übrigen zu geben. Ein Rabbiner darf und muss G’tt mit ins Spiel bringen. Ich habe den Eindruck, dass oft versucht wird, ohne einen g’ttlichen Bezug, Antworten auf Fragen, Probleme oder Ereignisse zu finden; dass es vielen fast peinlich erscheint, über ihren Glauben zu reden. Ein Rabbiner sollte in meiner Auffassung dem entgegentreten und einen gefestigten, sicheren Glauben an G’tt ausstrahlen und vorleben können, ohne sich dabei im Fundamentalismus zu verlieren.
Ein Rabbiner zu sein, heißt für mich nicht, stehen zu bleiben, Traditionen künstlich zu überhöhen und die Welt außerhalb der jüdischen Gemeinde zu vergessen. Gesellschaftliche Fragestellungen müssen genauso Einfluss auf Entscheidungen und Handlungen haben, wie z. B. technische Entwicklungen oder nicht-populäre Fragestellungen. Ein modernes Judentum kann in meinen Augen nur attraktiv bleiben, wenn es selbst modern bleibt, und damit geht auch die Frage nach der Attraktivität eines Rabbiners einher.
Abschließen ist es mir wichtig, dass ein liberaler Rabbiner auch ein liberaler Rabbiner ist. Sosehr mir Gemeinsamkeiten mit anderen, jüdischen Gemeinden wichtig sind, sosehr sind mir auch die Unterschiede wichtig. Ein liberaler Rabbiner darf, ja sollte sogar für das liberale Judentum werben und es nach außen vertreten. Er bzw. sie ist eines der wichtigsten Aushängeschilder der Gemeinde und muss sich daher im liberalen Judentum zu Hause und wohl fühlen.
Den Beitrag habe ich ursprünglich am 2.8. gepostet. Da ich aber bisher wenig Reaktionen erhalten habe, stelle ich ihn noch einmal übers Wochenende nach vorne – vielleicht kommt ja noch was 🙂