„Sag mir ein Wort, irgendein Wort, und ich beweise Dir, dass es griechischen Ursprungs ist.“

So lautet einer der Running Gags aus dem Film „My big Fat Greek Wedding“. Gus Portakolos, der Patriarch der Familie der Braut ist davon überzeugt, dass für jedes Wort die Wurzel in der griechischen Sprache gefunden werden kann.

Im Falle einer Bezeichnung für das 5. Buch der Tora – Deuteronomium – hätte Gus Portakolos selbstverständlich Recht. – Aber Gus geht es nicht wirklich um die Richtigkeit seiner Wortabstammungslehre. Ihm liegt nur etwas an seiner griechischen Sprache und deren Beitrag für die weltweite Kultur. Er ist einfach stolz auf sein Griechenland.
Die Bezeichnung Deuteronomium leitet sich, wie gesagt, aus dem Griechischen ab. Das Wort Deuteronomos bedeutet so viel wie „eine zweite Schilderung der Gesetze“, oder“ zweites Gesetz“. Diese Bezeichnung entstammt der Septuaginta und basiert auf dem Tora-Zitat aus dem 5. Buch, Kapitel 17, Vers 18:

‏וְכָתַב לוֹ אֶת־מִשְׁנֵה הַתּוֹרָה הַזֹּאת‎ wə-chatav lo et mischne ha-Tora ha-sot Er soll ihm von dieser Lehre eine Wiederholung schreiben.

Und im Grunde ist es genau das, was Mosche im letzten Teil der Tora macht. Er wiederholt die Gesetze und Gebote und schildert die Ereignisse der letzten 40 Jahre.

Zwei Dinge sind für mich dabei wichtig:

In Bezug auf die Gebote und Gesetze erleben wir etwas sehr Bedeutendes. Es ist nicht mehr Gott, der die Gebote darlegt, es ist der Mensch Mosche, der sie auslegt und interpretiert. In der Tora wird somit die Grundlage für unser progressive Judentum gelegt: Mosche passt die Gebote, die er zuvor von Gott gehört hatte, durch Auslegung an die nächste Generation an. Realitäten, wie z.B. die während der Wüstenwanderung entstandenen neuen Gesellschaftsstrukturen zeichnen sich unter anderem sehr schön in der „zweiten Fassung“ des Dekalogs – der 10 Gebote – ab.

Das zweite, was wir im Buch Devarim – so der hebräische Name für das fünfte Buch der Tora – lesen, sind Mosches lange Schilderungen der Ereignisse seit dem Auszug aus Ägypten. Er, der Zeitzeuge, schildert der nächsten Generation, was geschehen ist. Er tut dies, obwohl die, die ihm zuhören, vermutlicher Weise einen großen Teil selbst miterlebt haben.

Der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana schrieb in seinem Buch The Life of Reason folgenden Satz:

„Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert,
ist verurteilt, sie zu wiederholen”

Doch lange bevor Santayana mit diesem Satz eines der wichtigsten moralischen Gesetze unserer Zeit formulierte, legten die Autoren des Buches Devarim, dies, als eine der Grundlagen im Judentum, für uns fest. Mosche hält die Reden nicht, weil er sich gerne selbst reden hört, oder weil er den Israeliten etwas Neues zu erzählen hat. Er spricht zu den Israeliten (und damit auch zu uns), damit sie und wir uns der Bedeutung der Ereignisse bewusst werden, die stattgefunden haben. Er erinnert uns an die Lebensbedingungen als Sklaven und die Befreiung aus der Sklaverei durch Gott, an die Rebellionen der Israeliten und an die Vergebung durch Gott.

Das was uns das letzte Buch der Tora vor Augen führt, ist ein sehr sorgsamer Umgang mit der Tradition. Es verlangt, dass wir uns an die Vergangenheit erinnern, sie bewahren und zur Grundlage unserer Entscheidungen nehmen. Mehr noch, unsere Geschichte erschafft den Rahmen, innerhalb dessen wir handeln sollen.

ABER, mit denselben Worten erfahren wir auch, dass dies keinen Stillstand bedeutet. Aus den Erfahrungen lernen wir für die Zukunft. Die Gebote und Verbote müssen für jede Generation und durch jede Generation neu ausgelegt werden. Realitäten ändern sich, weil wir uns ändern.

 

  • Aus Sklaven werden freie Menschen,
  • Aus Überlebenden werden Menschen, die die Zukunft gestalten.
  • Aus Kindern wird eine neue Generation.

 

Etwas, das m.E. bis heute seine Gültigkeit und Bedeutung hat.

Vor drei Wochen war ich mit einer Gruppe von Netzer Chanichim in Auschwitz. Wir haben uns vor Ort mit der Vergangenheit auseinandergesetzt – Fragen gestellt, Antworten gesucht.

Ein Fazit dieser Reise ist für uns, dass wir alle mithelfen müssen, an die Verbrechen der Shoa zu erinnernd und das Andenken der Opfer zu bewahren. UND gleichzeitig müssen wir auch die Ereignisse nach 1945, u.a. der Aufbau eines neuen jüdischen Lebens in einem demokratischen Europa, würdigen. Weder das eine, noch das andere darf alleine maßgebend für das sein, was wir als jüdische Gemeinschaft tun.

  • Die Erinnerung an das was geschehen ist,
  • die Erfahrungen der Überlebenden
  • und die Visionen der nächsten Generationen

bilden im Dreiklang den Handlungsspielraum, in dem wir uns bewegen sollten.

Gus Portakolos, unser Protagonist aus dem zitierten Film ist stolz auf sein Griechenland und dessen Beitrag zur Sprachkultur. Ich finde zu Recht. Und so wie er stolz auf das ist, was seine, griechische Sprache beigetragen hat, sollten wir nicht verstecken, was unsere Tradition und unsere Werte zu bieten haben. Nicht von einem überlegenen, unreflektierten Standpunkt aus, sondern im Dialog mit anderen,

  • als eine Gemeinschaft, die zuhören kann;
  • als Menschen, die Werte leben um damit die Zukunft zu gestalten,
  • und als Menschen, die anderen helfen, ihren eigenen Weg zu finden, ohne ihnen die eigene Identität abzusprechen.

Das zählt für mich zum Kern des fünften Buches der Tora und bildet die Grundlage für ein weiterhin modernes Judentums.
Schabbat Schalom

Drascha gehalten anläßlich der Jahrestagung der Union progressiver Juden in Deutschland, Schabbat Chazon – Dewarim 5773 (11-14.7.2013)