Eine Identitätsfrage: Wer ist Jude?

Viele Fragen, die mich erreichen, drehen sich immer wieder um einen Themenkomplex. Um die jüdische Identität. Was bestimmt die jüdische Identität, was macht uns jüdisch? Wie sieht ein jüdisches Leben aus? Rituale sind ein wichtiger Teil der Identitätsbildung. Die Mesusah an der Tür kennzeichnet ein jüdisches Haus, die Bewohner sind also aller Wahrscheinlichkeit nach Juden. Sich bewusst gegen Tattoos zu entscheiden, kann auf einer jüdischen Identität basieren, und natürlich die Brit Mila, die Beschneidung ist ein signifikantes Zeichen jüdischer Identität, um nur drei der Themen aufzuzählen, die ich in der letzten Zeit hier angesprochen habe.

Aber weder die Mesusah, noch das Fehlen von Tattoos, noch die Beschneidung machen einen Menschen (im letzten Fall einen Mann) zu einem Juden. Das kann ich als gesichert vorausstellen. Damit beginnt aber schon das Problem. Wer ist eine Jüdin, ein Jude? Was ist das Judentum?

Die halachisch (religionsgesetzlich) korrekte Antwort lautet: Jeder der von einer jüdischen Mutter geboren wird, ist jüdisch. Zudem gibt es die Möglichkeit, einen Gijur, einen Eintritt ins Judentum zu vollziehen (nach einer gewissen Zeit des Lernens mit einem Rabbiner, mit einer Rabbinerin, der Teilnahme am Gemeindeleben und abschließend eine eingehende Prüfung des Falles durch ein Rabbiner-Gericht (+ Untertauchen im Ritualbad und bei Männern einer Beschneidung) wird am Ende der Kandidat, die Kandidatin ins Judentum aufgenommen).

Die etwas ungewöhnliche Regelung, den religionsgesetzlichen Status über die Mutter weiterzugeben, galt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht immer im Judentum. In biblischen Zeiten, d.h. in stammeskulturellen Zusammenhängen, bestimmte eher die Zughörigkeit zu einem Haushalt, zu einem Familienverband, oder einfach der Ort an dem man lebte, die Religion und das was man war. Die Weitergabe von religionsgesetzlich relevanten Stati (Religionskaste), wie zum Beispiel der Priester-Status, die Zugehörigkeit zu den Lewi’im, oder die Zugehörigkeit zu Israel, dem regulären Volk, wurde und wird bis heute über den Vater weitergegeben (im traditionellen Judentum ist die Religionskaste nur in der männlichen Linie von Relevanz, im konservativen Judentum für Söhne und Töchter, im liberalen Judentum gilt das Kastensystem als nicht mehr relevant).

Warum bestimmt also heute die mütterliche Line die Zugehörigkeit zum Judentum. Die Antwort, die mir am Plausibelsten erscheint, ist folgende: Wer die Mutter eines Kindes ist, ist unzweifelhaft. Selbst in Zeiten von assistierten Kinderwunsch-Behandlungen (Eizellspende, oder Leihmutterschaft) hilf das halachische Prinzip, dass die Frau, die das Kind zur Welt bringt, auch die Mutter ist. Ist diese Frau jüdisch, ist das Kind jüdisch. Der Vater eines Kindes ist nie 100% sicher.

Wenn es aber so einfach wäre, zu bestimmen, wer jüdisch ist, würden nicht fast alle Bücher zum Judentum dieser Frage viele Seiten widmen und oft zu unbefriedigenden Antworten kommen. Schuld daran ist, dass es so schwer ist, zu definieren, was Judentum an sich ist. Würde man Judentum nur nach dem zuvor beschriebenen Prinzip definieren wollen, dann wäre das Judentum eine Rasse. Eine biologisch bestimmbare Gruppe von Menschen. Viele jüdische Menschen werden hier sofort widersprechen. Für sie ist Judentum zum Beispiel eine Religion. Sie glauben an G’tt, sind aber Amerikaner, Franzosen, Deutsche. Sie gehören keiner jüdischen Rasse oder Nation an. Nicht überraschend werden sofort Stimmen von der anderen Seite laut, die mit demselben Recht von sich sagen, dass sie nicht an G’tt glauben, aber trotzdem Juden seien. Dazu gehören unter anderem die vielen säkularen Juden in Israel, aber auch Jüdinnen und Juden in allen anderen Teilen dieser Welt. Judentum bestimmt sich für sie aus Bräuchen, dem Kalender, der Familiengeschichte und so weiter.

Judentum ist daher vielleicht als eine Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaft, basierend auf einem Wertesystem, beschreibbar. Wichtig ist dabei ein besonderes Phänomen: die Beständigkeit über Generationen hinweg. Auch wenn sich die erzählten Überlieferungen und Werte mal hier und mal dort verändern, ist ihr Kern doch sehr beständig. Juden sind meiner Meinung nach Menschen, die an diesem Kern festhalten und über ihn miteinander verbunden sind.
Kritiker werden mir sofort vorwerfen, dass das sehr beliebig aussieht. Wenn man davon ausgeht, dass Religion privat Sache ist, dann stellt dies kein größeres Problem dar. Jeder kann sein, was er oder sie will. Aber in dem Augenblick, in dem Religion in irgendeiner Form organisiert werden soll oder muss, z.B. weil man eine Gemeinde formen will, dann braucht es tatsächlich Regeln, Definitionen. Für das Judentum ist es die oben beschriebene mütterliche Linie, oder der formale Eintritt ins Judentum.

Es gibt noch unendlich viel zu diesem Punkt zu sagen, und ich bin mir sicher, wir werden gemeinsam noch oft auf dieses Thema zurückkommen. Ich werde für heute mit einer letzten kleinen Fragestellung abschließen, die sehr eng in Zusammenhand mit dem eben beschrieben besteht und uns im alltäglichen Gemeindeleben immer wieder begegnet.
Die Definition der Zugehörigkeit zum Judentum über die mütterliche Linie bringt mit sich eine gewisse Ungerechtigkeit. Sie grenzt Menschen aus, die wir vielleicht nicht ausgrenzen wollen. Es sind Männer und Frauen, die keine jüdischen Mütter haben, aber einen jüdischen Vater. Es ist nicht selten, dass diese Menschen häufig auch in einem jüdischen Kontext sozialisiert werden. Die Familie feiert vielleicht Chanukka, geht an den Feiertagen in die Synagoge, oder hält einen gewissen Standard an Kaschrut. Vielleicht sind die Großeltern des Kindes Shoah-Überlebende, oder die Familie wurde in der Sowjetunion diskriminiert. Es gibt viele Gründe, warum sich die Menschen zu Recht jüdisch fühlen, aber nach der strikten Definition sind sie nicht jüdisch.

Die Gemeinden und die Rabbiner die sich dieser Fragestellung annehmen, bewegen sich in der Regel auf einem schmalen Grat zwischen dem Aufweichen von Prinzipen und Traditionen auf der einen Seite und humanen Verhalten auf der anderen Seite. Es handelt sich schließlich nicht um Handelsprodukte, die danach unterschieden werden müssen, ob man sie weiterverkaufen kann, oder nicht.

Radikale Positionen helfen bei der Lösung der Frage am wenigsten. Die komplette Ablehnung patrilinearer Juden führt zwangsläufig dazu, dass dieser Mensch für das Judentum verloren geht. Die Tradition, die man an ihn weitergegeben hat, geht genauso verloren, wie all das, was sie oder er beitragen könnte. Da Judentum aber auch auf genau diesen beiden Säulen ruht, kann es nur zum Schaden des Judentums in seiner Gesamtheit sein. Die Anerkennung ohne Wenn und Aber löst zwar dieses Problem, ist aber in ihrer Umsetzung recht unwahrscheinlich. Ich denke nicht, dass alle Strömungen des Judentums sich darauf einlassen würden, und daher wäre die Anerkennung nur innerhalb eines beschränkten Rahmens möglich. In größeren Gemeindezusammenhängen, wie z.B. in den USA, in dem der betroffene Mensch an mehreren Orten Gemeinden finden kann, die ihn als Juden anerkennen, kann die Anerkennung als Juden ohne weiteres Verfahren problemlos sein, aber hier in Deutschland, wo viele Gemeinden noch „Einzelkämpferstatus“ haben, bedeutet dies, dass die Fragestellung erneut auftauchen kann.

Daher werden meines Wissens in allen jüdischen Gemeinden in Deutschland patrilinearer Juden nicht als halachische Juden anerkannt, sie erhalten z.B. in einem G’ttesdienst keinen Aufruf zur Torah, eine jüdische Hochzeit kann für sie nicht abgehalten werden u.ä. Dem steht positiv gegenüber, dass in vielen Gemeinden „Vaterjuden“ am Gemeindeleben teilnehmen können. Soweit soziale Angebote zum Gemeindeleben dazu gehören, stehen diese meiner Erfahrung offen und Kinder können in der Regel den Gemeindekindergarten oder die Schule besuchen.

Zur vollen Integration ist ein Gijur, ein Eintritt ins Judentum notwendig. Einige Rabbiner, mit denen ich gesprochen habe, betonen, dass sie diese Gijur-Wünsche bevorzugt behandeln, da mit diesem Schritt etwas geheilt werden kann, was durch die notwendige Einhaltung der Definitionsregelung wie eine Wunde offen liegt. Viele Rabbiner haben mir auch bestätigt, dass sie es „Vaterjuden“ nahelegen, diesen Schritt zu vollziehen.

1 Comment

  1. Mark Schwartz

    Ich stimme völlig zu. Ich kenne Leute, die in die Hebräische Schule gegangen sind, als Jude geprägt sind, aber leider sind nicht als Juden betrachtet, wegen diesen altmodischen Regeln. Ich habe einmal über jungen Juden von der Patriarchallinie in Dänemark gehört, die total ausgegrenzt fühlen und sind sehr traurig deswegen. Jetzt mit DNA man weiss, wer der Vater ist! Noch etwas komisches und auch witziges. Einmal habe ich einen Rabinern gefragt, warum der Sohn von Kohen oder Levi, auch Kohen oder Levi ist? Er hat schnell geantwortet, und sagte, “Die Frau eines Kohen oder Levi würde ni fremdgehen!!” Hello!!! LOL

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