auf unterschiedlichsten foren und in blogs wird derzeit über ein jüdisches gebet diskutiert, welches (angeblich) vergleichbar mit der karfreitagsfürbitte sei. ich sehe es nur bedingt so. es ist ein universalistisches gebet, welches weder zur mission noch zur abwertung “nicht-monotheistischer” religionen aufruft. “götzendiener” sind im judentum nicht der islam, das christentum, oder die bahaii, um dies ganz klar zu machen. modern werden damit stark auch der glaube an geld, macht und andere “weltliche dinge” in verbindung gebracht, die über den glauben an G’tt und moral gestellt werden.
nachfolgend ein kurzer überblick über das gebet:
Wann:
Aleinu leitet den Schlussteil in allen Gottesdiensten ein, in der Regel nach der Amida (im Shacharit nach dem Tachanun). Im sefardischen Ritus wird es übrigens mit einem erneuten Aufruf eingeleitet. Aleinu ist der klassische Einleitungsteil für Malchujot im Mussaf an Rosh HaShana An Jom Kippur im Musaf vor dem Avoda-Teil um eine Brücke zum Mussaf von RHS zu bilden.
Inhalt:
Aleinu besteht aus zwei unterschiedlichen Abschnitten, die ursprünglich wohl zwei eigenständige Gebete waren
Der erste Teil drückt die Dankbarkeit und die Freude darüber aus, inmitten in einer heidnischen Welt Gott zuzugehören (siehe Kontroverse). Es preist Gottes Königstum, dass in der Schöpfung erkennbar ist. Das Gebet spricht von Gott in der dritten Person. Der erste Teil spricht von der Partikularität des Judentums.
Der zweite Teil handelt vom Ziel der Geschichte, das das Auserwähltsein des Judentums das Ziel der Universalität hat, das alle Menschen Gottes Herrschaft anerkennen werden. Der zweite Teil spricht Gott direkt in zweiter Person (Du) an und endet mit einen Zitat aus Sacharia (14.9).
Geschichte:
Wahrscheinlich seit dem 1300 CE wird Aleinu als Schlussgebet verwendet. Laut Trepp stammt der erste Teil jedoch aus der Zeit des Tempels, wo er ein tägliches Gebet des Volkes nach dem Priestersegen war. Die Legende besagt, dass es bereits Joshua bei der Überquerung des Jordans sang und bei der Eroberung Jerichos (Artscroll). Den zweiten Teil verfasste der Amoräer RAV im 3. Jahrhundert CE für den Rosh HaShana Gottesdienst (Talmud jRH 1,3) als Einleitung zu Malchujot. Sozusagen als tägliche Erinnerung an RoshHaShanah kam dann Aleinu in den täglichen Gottesdienst.
Kontoverse
Die Aufnahme von Aleinu als tägliches Gebet führte zu wiederholten Anklagen gegen Juden insbesondere in Deutschland/Polen. Haupt Kritik bildete der ursprüngliche zweite Satz:
Um 1400 „entdeckte“ ein zum Christentum konvertierter Jude, dass das hebräische Wort für Leere וריק den selben Zahlenwert wie Jesus ישו haben soll (316). Obwohl es von jüdischer Seite widerlegt wurde, hielt sich das Gerücht dauerhaft, Juden würden in Christen Menschen sehen, die nur das Leere anbeten. Noch im Jahre 1702 war dieser Vorwurf so stark verankert, dass es in Preußen zu einem eigenen Edikt (Gesetz) kam, dass das Verlesen dieses Satzes verbot. Wahrscheinlich ging er daher in der aschkenasischen Tradition verloren.
Aber auch der (nun) traditionelle zweite Satz steht dem universellen Gedanken, den insbesondere die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts im Aleinu sah (Ethischer Monotheismus), entgegen, da er die Stellung gegenüber den anderen Völkern aufwertet:
Alternativen:
und:
Dieser Satz drückt in gleicher Weise die Besonderheit Israels aus wie der traditionelle Satz, beschreibt sie jedoch nicht vor dem Hintergrund der anderen Völker, sondern sagt positiv, worin Israels Besonderheit besteht: in seinem Erwähltsein zur Tora.
Quellen:
Aleinu – Bild: Siddur Schma Kolenu – Morascha Verlag, Basel/Zürich, 2001
Annette Böckler, Jüdischer Gottesdienst – Wesen und Struktur, Jüdische Verlagsanstalt Berlin, Berlin, 2002, ISBN 3-934658-19-9, Seite 83ff
I. Ellbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner Geschichtlichen Entwicklung, Olms Verlag, Frankfurt, 1931/1995, ISBN 3-487-01587-0, Seite 80f
Leo Trepp, Der jüdische Gottesdienst, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1992, ISBN 3-17-011077-2, Seite 50, 122, 139
Joseph Telushkin, Jewish Literacy, Morrow, New York, ISBN 0-688-08506-7, Seite 549
Georg Robinson, Essential Judaism, Pocket Books Religion, New York, ISBN 0-671-03481-2, Seite 36f
Christentum – kein Götzendienst? Vielleicht in deinen Augen, wogegen ich nichts zu sagen habe. Aber von der allgemeinen Wahrnehmung ist das sehr weit entfernt (und ob das gut oder schlecht ist, bleibt dahingestellt). Zudem richtet sich das Gebet v. a. gegen das Christentum. Mit deiner Erlaubnis empfehle ich dir wärmstens die Lektüre von Israel Yuvals “zwei Völker in deinem Leib”:
http://www.v-r.de/de/titel/352556993/?sn=ujbf3nrfpnsdfuume5rv7ou7c0
Die Frage ist, ob man in Deutschland um des sogenannten Dialoges nicht gerne Kontroversen aus dem Weg geht. Ich halte aber diese Tendenz zur “Harmonisierung” nicht für sinnvoll, sondern ich fände es interessanter, auch jüdischerseits dazu zu stehen, daß auch wir Gebete haben, in denen wir uns eindeutig negativ auf die Christen beziehen.
Ich habe nicht nur einmal Männer der älteren Generation bei “וריק” symbolisch noch in die Ecke spucken sehen.