missverstehen

tut man sich gerne, wenn man den anderen gar nicht kennt.

ich habe mir gerade noch einmal die beiträge durchgelesen, die zu meinem eintrag “stundenplan” ausgetauscht worden sind und im grunde liefen sie darauf hinaus, dass zwei leute sich einen nicht ganz so freundlichen schlagabtausch dazu lieferten, welches judentum denn nun das bessere sei, das orthodoxe oder das liberale.

erstaunlicher weise, und das ist eine beobachtung, die ich oft mache, muss sich die liberale seite verteidigen, während sich die orthodoxe seite entspannt zurück lehnt und von sich behauptet, sie sei das traditionelle judentum und habe daher alle notwendige legitimation, dass richtige judentum zu sein. das die orthodoxie die einzige hüterin der tradition ist, ist natürlich blödsin. die tradition ist unser gemeinsames erbe und gemeinsam schaffen wir auch traditionen, auf die sich spätere generationen berufen können. 

wir liberale juden versuchen, so steht es auch so passend in der selbstbeschreibung der union progressiver juden, tradition mit der moderne in einklang zu bringen. wir bauen auf unserer jüdischen tradition ein modernes judentum auf. und, so mein eindruck, darin liegt unsere stärke. das liberale judentum schafft es, sich dadurch selbst zu erneuern, da es “wir machen das so, weil man das schon immer so macht” als grundregel ablehnt.

in meinen augen ist das liberale judentum eher bereit, sich wichtigen fragen zu stellen, die ein teil unserer zeit sind und somit aufgenommen werden müssen, so wie es alle generationen zuvor auch schon getan haben. es ist eine frage, wie wir frauen in der gesellschaft und in unserem G’ttesdienst begegnen, es ist eine frage, ob wir lesben und schwule in unsere mitte aufnehmen oder nicht, es ist eine frage, ob fortschritt ein teil der offenbarung sein kann oder nicht, es ist eine frage, ob wir auf einen messias hoffen oder an der vervollkommnung der welt (tikkun olam) jetzt mitarbeiten, es ist eine frage, welche einstellung wir gegenüber israel als land und vision haben.

es wurde in einigen eurer beiträge kritisch angemerkt, dass ich, als liberaler jude, orthodoxe synagogen besuche. ich selbst sehe darin nichts negatives, sondern eine der stärken, die mir das liberale judentum bietet. liberale juden können mit orthodoxen juden beten, weil sie orthodoxe juden als juden sehen und zwar ohne einschränkungen. ein orthodoxer jude oder eine orthodoxe jüdin zählt z.b. gleichwertig zum minjan. punkt.

es gibt dinge, die ich in der orthodoxie nicht gut finde, auslegungen, die mir bauchschmerzen machen (mamserut z.b.), aber dies sind punkte, über die wir diskutieren, ggf. sogar streiten müssen, die mein gegenüber aber nicht “unjüdisch” machen. liberales judentum bietet in meinen augen den schlüssel, solche konflikte auszuhalten. und ich hoffe, dass es “die orthodoxie” auch versteht, hierin eine stärke zu erkennen und nicht irrtümlicherweise eine schwäche. irgendwann …

3 Comments

  1. Matronit

    Also jetzt machst Du es Dir ein wenig zu einfach… Ich fand die Diskussion seinerzeit spannend, nur wurde sie leider irgendwann abgebrochen, weil die Argumente ausgingen. Du hast Dich übrigens nicht sehr lange an der Diskussion beteiligt.

    Ich denke nicht, daß sich die “liberale” Seite grundsätzlich verteigen müßte. Hier rückst Du die Liberalen in eine Opferrolle, die euch sicher nicht zusteht und in der viele sich sicher auch gar nicht sehen möchten.

    Es wurde auch nirgendwo wörtlich geschrieben, daß die Orthodoxie die “Hüterin der Tradition” sei. Kritik am liberalen Judentum ist nur natürlich, umgekehrt gibt es die Kritik (an der Orthodoxie) auch zur Genüge, manchmal zu Recht, oft zu Unrecht bzw. aus purer Unkenntnis heraus.
    Aus Kritik läßt sich auf jeden Fall immer viel lernen.

    “in meinen augen ist das liberale judentum eher bereit, sich wichtigen fragen zu stellen, die ein teil unserer zeit sind und somit aufgenommen werden müssen, so wie es alle generationen zuvor auch schon getan haben. ”
    Bei diesem Punkt frage ich mich beispielsweise, ob das nun wirklich Deine Überzeugung aus vielen Jahren gelebtem liberalem Judentum mit vielen Begegnungen mit der Orthodoxie gewachsen ist oder ob das nur ideologische Phrasen sind.
    Zudem reihst Du Dich damit genau in die Form der Diskussion ein (“welches judentum denn nun das bessere sei, das orthodoxe oder das liberale”), die Du weiter oben gerade kritisiert hattest.

    Was den Besuch orthodoxer Synagogen angeht: die Frage, welchen Lustgewinn Liberale aus solchen Besuchen ziehen, ist berechtigt und man darf sie stellen. Reformer können mit Orthodoxen beten, ja. Niemand wird es irgendjemandem verwehren, an einem G’ttesdienst teilzunehmen, egal, wo er oder sie herkommt. Die Frage war aber vielmehr die, warum sich liberale Gerim in orthodoxen Synagogen zu Alijot aufrufen lassen und nicht, ob orthodoxe Juden zu einem Minjan zählen können. Hierüber gibt es einfach gar keine Frage. Dein Freund, der Rabbinerstudent hat dafür anscheinend auch kein Verständnis ( “Die hoffnung kann ich mit dir nur teilen, leider muss ich mich zu oft vom gegenteil überzeugen was gerim angeht :-(”).

    Dies zum Beispiel war eine Diskussion, die ausgehalten werden muß…
    Sie ist noch auf einem einfacheren Level. Ich bezweifele, daß Du oder ich das halachische Wissen haben, das Thema Mamserut zu diskutieren, welches ohne eine gute Basis nur ein Austausch von Schlagworten bleiben kann. Hier höre ich dann lieber zu.

    ” es ist eine frage, wie wir frauen in der gesellschaft und in unserem G’ttesdienst begegnen, es ist eine frage, ob wir lesben und schwule in unsere mitte aufnehmen oder nicht, es ist eine frage, ob fortschritt ein teil der offenbarung sein kann oder nicht, es ist eine frage, ob wir auf einen messias hoffen oder an der vervollkommnung der welt (tikkun olam) jetzt mitarbeiten, es ist eine frage, welche einstellung wir gegenüber israel als land und vision haben.”

    Dieser Abschnitt wäre eine eigene Diskussion wert.
    Aber zunächst war wichtig, all das, was Du da herum gruppiert hast, auseinanderzudividieren.
    Eines jedoch vorab: mir scheint, Du weißt auch hier schon sehr genau, daß die Antworten auf all diese Fragen “liberal” sein sollten. Vielleicht wäre als Vorbereitung zu einer Diskussion in der Zukunft nicht schlecht, zu akzeptieren, daß Orthodoxe mit gewissen Dingen viel weniger Probleme haben, als Du Dir das von außen vorstellen kannst. Und daß manche Dinge anders sind, als die Vorstellung, die Du Dir von ihnen gemacht hast.

  2. Chajm

    Ich würde auch sagen, dass in Diksussionen die Konstellation nicht selten ist, nämlich dass liberale Diskutanten in dieses rhetorische Messer „Wir sind aber das Standard/einzige/Aussschließlichgültige Judentum” laufen und sich dann nur rechtfertigen warum sie dieses oder jenes tun oder eben nicht tun. Da gibt es durchaus Gesprächspartner die sehr herablassend abwinken sagen, „Ja ja, aber richtig ist das ja alles sowieso nicht”. In so mancher Diskussion (offline) habe ich mir das auch zu eigen gemacht und das funktioniert bestens. Der Gesprächspartner hat nach wenigen Minuten riesige Aggressionen aufgebaut und wird unruhig und kann auch dann irgendwann auch nicht mehr vernünftig diskutieren, weil er immer in der Defensive ist. Eine wahrhaftige Form von Dialog ist das selbstverständlich nicht… eher eine Technik der man im Internet und auch in der richtigen Welt immer häufiger begegnet…

  3. Matronit

    Chajm, ich kann dem nicht zustimmen. Ich denke, auch das liberale Judentum ist kein Waisenkind 😉 (sagte ich ja bereits). Wie oft habe ich schon das Argument von der “zahlenmäßig größten Strömung im Judentum” und Ähnliches gelesen oder gehört (allein als ob dieses Argument etwas beweisen würde) und anderes… ich denke, keiner steht hier irgend jemandem etwas nach. Die Frage ist vielmehr, wo man sich befinden will: in der Schmollecke oder in der Lage, auch Unbequemes so lange hin und herzuwenden, bis man eventuell zu einer Lösung gekommen ist, die beide oder mehrere Seiten (vorläufig) stehen lassen können?

    Interessant finde ich die Frage, warum etwas “nicht das Richtige ist” übrigens eigentlich schon. Ich für meine Teil denke, daß es wirklich Kritikpunkte gibt am liberalen Judentum, wo ich auch wenig interessante Entwicklungen für die Zukunft sehe, die man durchaus auch besprechen könnte. Die Bereitschaft dazu müßte aber schon da sein – vor allem, wenn man Blogs eröffnet. Ein Blog heißt doch eigentlich, sich Kontroversen zu öffnen, oder habe ich da etwas mißverstanden?

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